Zwischen Alfred Hitchcocks Meisterwerk und Slasher-Blaupause „Psycho“ und John Carpenters „Halloween“, mit dem der Slasher als Subgenre manifestiert wurde und in Serie ging, lagen 18 Jahre, in denen eine ganze Reihe von Filmen entstand, die die anschließende Slasher-Welle auf verschiedene Weise inspirierten. Ein wichtiger Vertreter der Untergattung „Babysitter vs. Psychopath“ ist der britische Film „Die Fratze“ von Regisseur Peter Collinson („Charlie staubt Millionen ab“) aus dem Jahre 1971, der dieses Handlungs-Sujet ins Leben gerufen haben dürfte.
Das Paar Helen (Honor Blackman, Pussy Galore aus „Goldfinger“) und Jim Lloyd (George Cole, „Gruft der Vampire“) möchte endlich wieder einmal ausgehen, um den Scheidungstag von Helens Ex-Mann (Ian Bannen, „Ein Haufen verwegener Hunde“) zu feiern, und engagiert daher die Studentin Amanda (Susan George, „Straw Dogs – Wer Gewalt sät...“) als Babysitterin für den kleinen Sohnemann Tara (Tara Collinson) in ihrem abgelegenen, ausladenden Landhaus. Helen jedoch ist nervös, handelte es sich bei ihrem geschiedenen Mann doch um einen gefährlichen Psychopathen, der in einer Nervenheilanstalt untergebracht wurde. Amanda weiß von all dem nichts und muss sich zunächst mit einem paarungswilligen Verehrer aus dem Freundeskreis herumplagen – bis ihr schmerzlich bewusst wird, dass die Fratze, die sie durch ein geschlossenes Fenster beobachtet hat, tatsächlich nicht ihr aufdringlicher, doch letztlich harmloser Nachsteller war...
„Die Fratze“ beginnt stimmungsvoll mit einer sanften Ballade, bis Helens geheimniskrämerisch-beunruhigendes Verhalten die nervöse Grundstimmung des Films einleitet. Während die häufig angenehm ästhetische und originelle Kameraführung Spiegelungen im Uhrpendel und andere schöne Details einfängt, wird die unbehagliche Atmosphäre eines großen, leeren Hauses, die mit geschärften Sinnen für jedes kleine Geräusch einhergeht, visuell wie akustisch perfekt umgesetzt. Die voranschreitende Unruhe Amandas überträgt sich auf den Zuschauer, der die spannungsgeladenen Szenen an ihrer Seite verfolgt und mit ihr vorsichtig durch das Haus schleicht. Dieses Geschick, Angst und Panik spürbar zu machen, zieht sich durch den gesamten Film und ist einer seiner großen Pluspunkte. Wenn in einer Suspense-Szene plötzlich der Ton komplett aussetzt und erst mit Amandas panischer Atmung wieder einsetzt, dürfte sich so manche Hand in die Kinosessel gegraben haben. Ob die hässliche Einrichtung des Gebäudes mit ihren scheußlichen Tapeten bereits damals bewusst als Stilmittel eingesetzt wurde oder schlicht dem Zeitgeist entsprach, kann ich hingegen nicht beurteilen.
Aus heutiger, genreerfahrener Sicht ist die Handlung natürlich arg vorhersehbar, so sehr sich Helen und Jim anfänglich auch über die wahren Hintergründe bedeckt halten und der Zuschauer erst nach und nach aus dem Mund des geschwätzigen verhinderten Liebhabers Amandas und den Gesprächen des Paares mit dem behandelnden Arzt Dr. Cordell (John Gregson) erschließt, welche Gefahr durch wen nun genau besteht. Den Begriff „Klischee“ vermeide ich an dieser Stelle jedoch bewusst, denn Collinsons Psycho-Thriller war einerseits zu früh da, um ihm derartige Vorwürfe machen zu können, und umschifft zudem Allgemeinplätze wie die einer verantwortungslosen Babysitterin oder dem unmittelbar zum Tod führenden Sex beinahe komplett. Amandas Möchtegern-Freund kommt nicht richtig zum Zuge und außer ein paar schlüpfrigen Kommentaren seinerseits war es das dann auch schon. Nichtsdestotrotz ist auch „Die Fratze“ sexuell aufgeladen, jedoch nicht im bekannten Stile leichtfüßiger Teenie-Slasher.
Wenn deutlich wird, dass Helen Recht behalten sollte und der psychisch derangierte Ex-Mann tatsächlich ins Haus kommt und Amanda sowie Tara bedroht, regieren einerseits Hysterie und Wahnsinn par excellence, bekommt der Film andererseits aber auch eine ausgeprägte tragische Note, da er Brian eindeutig als Opfer einer psychischen Erkrankung charakterisiert, statt ein emotionsloses Monster aus ihm zu machen. Szenen wie die einer Vergewaltigung wirken dadurch nur noch beklemmender und übler, der Täter indes vollkommen unberechenbar. Kamera-Zooms auf die Gesichter setzen groß die Mimik der hervorragenden Schauspieler in Szene. Susan George ist nicht nur ein wahrer Augenschmaus, sondern wird als eine Art Archetypus einer „Scream Queen“ etabliert, die in ihrer Rolle voll aufgeht. Nicht minder beeindruckend ist Ian Bannen, der an der Grenze zum Overacting agieren muss und eine beeindruckende Leistung abliefert. Die Stimmungsumbrüche vom gespielt netten Nachbarn zum seine Ex-Frau in Amanda sehenden, rasenden Irren wirken beängstigend, der Schizophrenie seiner Rolle wird er gerecht.
Unterm Strich ist „Die Fratze“ ein gelungener, sorgfältig inszenierter Psycho-Thriller, der zum Vorreiter einer ganzen Untergattung wurde und Defizite der absehbaren Handlung sowohl durch seine ruhigeren, atmosphärischen Suspense-Momente als auch durch das starke, noch immer an die Nieren gehende, tragische Finale wettmacht, das u.a. zum Nachdenken über Selbstjustiz anregt. Wer einen Proto-Slasher mit hohem „Bodycount“ oder einen exploitativen „Sex & Violence“-Streifen erwartet, wird hingegen zwangsläufig enttäuscht werden. Zwei Besonderheiten möchte ich nicht unerwähnt lassen: Wie in so vielen anderen Thrillern und Horrorstreifen auch schaut die Protagonistin selbst einen Genrefilm im TV, hier ist es der empfehlenswerte britische Zombiereißer „Nächte des Grauens“. Und Tara ist nicht nur eigentlich ein Frauenname, sondern der tatsächliche Vorname des Kleinen, der der Sohn des Regisseurs ist – und hier einiges über sich ergehen lassen muss.