„Ich bin Arzt, ich bin kein Mörder!“
Nachdem sich Hansjörg Felmy mit dem „Tatort: Schönes Wochenende“ von seiner Rolle als Essener Kriminalhauptkommissars Heinz Haferkamp verabschiedet hatte, kam es noch zu einer Art Nachklapp, indem Regisseur Axel Corti ein Drehbuch Bernd Schwamms für den Essener „Tatort“-Zweig inszenierte, das – wie zuvor bereits das Buch zum „Tatort: Der Zeuge“ – von Felmy wegen Missfallen abgelehnt worden war. Anstatt eine Vertretung als Chefermittler zu installieren, ließ man die Ermittlungsverantwortung ganz auf den Schultern Willy Kreutzers (Willy Semmelrogge) lasten, Haferkamps beruflichem Partner, stellte ihm aber in der Figur des österreichischen Kriminalbeamten Klein (Towje Kleiner, „Geheimtip für Tommy“) einen ihm untergeordneten Mitarbeiter zur Seite. Damit ist die im Frühjahr 1980 gedrehte und am 14. Dezember 1980 erstausgestrahlte „Herzjagd“ der tatsächliche Schlusspunkt unter den Essener „Tatort“, bevor der WDR den Staffelstab nach Duisburg an die Herren Schimanski und Thanner weitergab. Für Regisseur Corti wurde es der nach „Tatort: Wohnheim Westendstraße“ zweite und letzte Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe. Möglicherweise erklärt Felmys ablehnende Haltung, weshalb in seinem vorausgegangenen letzten Fall nichts auf seine Verabschiedung hindeutete. Begründet wird seine Abwesenheit innerhalb der Handlung schlicht mit einem Urlaub.
„Ist das modern, oder was?!“
Der Bundeswehrgefreite Wolfgang Tielens (Claude-Oliver Rudolph, „Das Boot“) setzt sich über sein jüngst gegen ihn verhängtes Ausgangsverbot hinweg, um seine herzkrankte Mutter (Brunhild Hülsmann, „Notarztwagen 7“) im Krankenhaus zu besuchen. Dort erfährt er, dass sie operiert werden solle, wähnt sie jedoch nicht in guten Händen. Er möchte, dass ihr die bestmögliche Behandlung anheim wird, und flieht vor den anrückenden Feldjägern, um Klinikprofessor Dr. Heinrich (Gunther Malzacher, „Das Schlangenei“) aufzusuchen und Druck auf ihn auszuüben, die OP persönlich durchzuführen. Als während seiner Versuche, die Feldjäger abzuschütteln, einer von ihnen die Waffe zückt, kommt es zu einem Handgemenge, an dessen Ende Wolfgang ihn eine Treppe hinunterstößt und dessen Waffe an sich nimmt. Dieser Fall landet auf Kommissar Kreutzers Schreibtisch, als besagter Feldjäger am nächsten Tag plötzlich tot umfällt, anscheinend aufgrund innerer Verletzungen infolge seines Treppensturzes. Währenddessen wird der flüchtige Wolfgang mitsamt Waffe bereits bei Herrn Dr. Heinrich vorstellig…
„…wenn Sie wissen, was ich meine…“
Der junge Claude-Oliver Rudolph als Soldat Wolfgang Tielens donnert zusammen mit Ralf Richter („Das Boot“) als namenlosem Beifahrer mit einem Bundeswehr-Lkw durch den Wald, wovon sein Vorgesetzter (Dieter Pfaff, „Der Fahnder“) nicht begeistert ist. Eine Urlaubs- und Ausgangssperre ist die Konsequenz, die Wolfgang alles andere als recht ist – womit das Unglück seinen Lauf nimmt. Mit seiner Mutter geht der rüpelige junge Mann äußerst liebevoll um, was seiner Rolle die nötige Ambivalenz angedeihen lässt. Das Katz-und-Maus-Spiel mit den Feldjägern beginnt harmlos, wird aber ebenso eskalieren wie die Gesamtsituation für Wolfgang, der sich in seiner Verzweiflung angesichts des desolaten Gesundheitszustands seiner geliebten Mutter und seiner Ohnmacht immer tiefer reinreitet. Kurzzeitig quartiert er sich bei seiner Tante Inge Köndgen (Tilli Breidenbach, „Lindenstraße“) ein, die noch auf ihn einzureden versucht, von wo aus er jedoch in eine leerstehende Wohnung weiterflieht, als man ihm auch dort auf die Pelle rückt.
„Ich bedaure zutiefst, Ihnen begegnet zu sein.“
Erst jetzt wird die Perspektive hin zur Kriminalpolizei gewechselt und kommen Kreutzer und Klein ins Spiel – wobei letzterer gleich zu spät kommt. Haferkamp schreibt aus seinem Urlaub in Griechenland, womit dessen Abwesenheit kurz und bündig abgehandelt wird. Im Mittelpunkt der Handlung wird aber bis zu ihrem Ende Wolfgang stehen. Fragen nach dem Täter oder dessen Motiv stellen sich weder fürs Fernsehpublikum noch für die Polizei und der Tod des Feldjägers wird nicht einmal im Ansatz, beispielsweise offscreen nach einer vorausgegangenen Szene, visualisiert, vielmehr erfährt man aus einem polizeilichen Dialog heraus von ihm. „Herzjagd“ ist lediglich sekundär eine Krimi-Episode; primär handelt es sich um ein gen Melodram tendierendes Drama, das sowohl das Problem aufgreift, die bestmögliche medizinische Behandlung lediglich gegen viel Geld erkaufen zu können, als auch die Unfähigkeit Wolfgangs, den wahrscheinlich nahen Tod seiner Mutter zu akzeptieren. Er hat sich sogar tief in potenzielle Behandlungsmethoden eingelesen und ist bestens informiert. Obwohl der finanzielle Aspekt derjenige mit dem größeren sozialen Sprengstoff ist, orientiert sich dieser „Tatort“ dann doch zunehmend an Wolfgangs psychischem Ausnahmestand entlang. Diese macht ihn gar zum Geiselnehmer, eine Straftat, die seinerzeit durch die Aktivitäten der RAF allgegenwärtig schien und vermutlich deshalb auch von dieser Episode aufgegriffen wurde. Zwischen den Zeilen schwingt aber auch Kritik an der Bundeswehr mit: Es ist klar, dass jemand wie Wolfgang, dessen Mutter im Sterben liegt, eigentlich nicht gerade seinen Wehrdienst ableisten sollte müssen.
Bemerkenswert ist die bedrückende Atmosphäre dieser Episode: Von Ruhrpottcharme keine Spur, stattdessen hässliche Hinterhöfe, marode Wohnungen, ein seltsam beengt wirkendes Polizeirevier, schlechtes Wetter, Kälte, gegen Ende gar eine Art Wintereinbruch. Essen ist hier wahrlich keine Schönheit, wird zur Kulisse und zugleich Ausdruck der Hoffnungslosigkeit dieses Falls. Die Versuche, etwas Humor einzubringen, indem man die Beamten darüber diskutieren lässt, wie man Frikadellen nennt, oder einen aufdringlichen, wenig maskulinen und damit eventuell vorsichtig als homosexuell konnotierten Nachbarn (Ernst Jacobi, „Die Blechtrommel“) auf Wolfgang loslässt, erzielen kaum aufheiternde Wirkung. Interessant ist, dass es mit Frau Baumann (Christl Welbhoff, „Tatort: Zwei Leben“ (dort jedoch lediglich als Kellnerin)) nun auch weibliches Polizeipersonal gibt, mit dem die weitere Vorgehensweise diskutiert wird. Das Finale dreht noch einmal stark an der Spannungsschraube: Ein Kind verschwindet, das Fernsehen wird eingeschaltet und zu einer Live-Übertragung genötigt (ist das schon Meta-Ebene?), ein Schuss fällt.
Rund 100 Minuten lang spitzt sich in „Herzjagd“ alles sehr zu, um letztlich doch tragisch zu enden. Die Conclusio scheint zu sein, dass sich Manches einfach nicht abwenden lässt. Etwas Straffung hätte diesem Fall vielleicht gutgetan, womit auch die leichte Überlänge zu vermeiden gewesen wäre. Rudolph spielt seine Rolle in diesem auf ihn zugeschnittenen „Tatort“ höchst respektabel; die neue – und einmalig gebliebene – Ermittlerfigur Klein wirkt sympathisch, bekommt jedoch ebenso wie Kreutzer nur wenig Raum zur Entfaltung. Rührte daher eventuell Felmys ablehnende Haltung? Ob „Herzjagd“ angesichts der zentralen Rolle, die neben Wolfgang das Telefon hier spielt, von der Bundespost gesponsert wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Als „Tatort“ ein Unikum und Kuriosum, als Kriminaldrama spannend und sehenswert, für manch später populär und beliebt gewordenen Schauspieler eine gut genutzte Bühne.
Damit endet meine Retrospektive auf dann doch gar nicht so wenige „Tatort“-Episoden aus den 1970ern über verschiedene Ermittlerfiguren und -teams hinweg. Vielleicht hat sie der respektive die eine oder andere Leser(in) als interessant oder aufschlussreich empfunden. Für mich zumindest war sie es.