Das ist mir alles nur so rausgerutscht.“
Ein Jahr nach ihrem „Tatort“-Einstand „Das Mädchen von gegenüber“ meldeten sich die Gies-Brüder Hajo (Regie) und Martin (Drehbuch) mit einem weiteren Fall der Essener Kommissare Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge) zurück: „Der Feinkosthändler“ ist der mittlerweile fünfzehnte Einsatz des Duos und wurde am 10. September 1978 erstausgestrahlt. Es sollte der letzte Gies-Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Krimireihe werden, bevor Hajo Gies Haferkamps WDR-Nachfolger Horst Schimanski ins Rennen schickte.
„Du kannst ihn doch nicht einfach beschuldigen!“ – „Warum denn nicht?“
Die attraktive Frau Böhmer (Kathrin Ackermann, „Unter den Dächern von St. Pauli“) kehrt früher als geplant aus ihrem Urlaub zurück, doch die Lebensmittelgeschäfte haben bereits geschlossen. Daher bittet sie ihren Nachbarn, den verheirateten Familienvater und Inhaber eines Supermarkts Walter Wever (Walter Kohut, „Supermarkt“), ihr seinen Laden noch einmal aufzuschließen. Wever willigt ein, wird jedoch permanent von ihr umgarnt und provoziert. Beide hatten einmal ein Verhältnis miteinander, mit dem Wever abgeschlossen hat. Am nächsten Morgen wird Frau Böhmer erschlagen in ihrer Wohnung aufgefunden. Die Kommissare Haferkamp und Kreutzer ermitteln, Herr Wever ist dringend tatverdächtig. Er enthält der Polizei einige Informationen vor, man muss ihm den genauen Ablauf des Abends förmlich aus der Nase ziehen. Auch seine Angestellte, die Kassiererin Biggi Lampertz (Mariele Millowitsch, „Minipli“) weiß kaum etwas Gutes über ihren Chef zu berichten. Dieser hat sie tatsächlich auf dem Kieker, da er ihren Lebenswandel missbilligt. Doch ist sie ausgerechnet mit dessen Sohn Andreas (Kai Taschner, „Aus einem deutschen Leben“) liiert – heimlich, denn Herr Wever darf davon nichts wissen…
„Warum verhaften wir sie nicht gleich?“
Die anfänglichen Dialoge zwischen Böhmer und Wever wirken seltsam aufgesagt, als würden sie in Chiffre miteinander reden. Bald stellt sich der Grund heraus: Je mehr sie ihm Avancen macht, desto stärker ist er um Distanz und Förmlichkeit bemüht. Eine bizarre, auch fürs Publikum unangenehme Situation. Wever, der von der Affäre nichts mehr wissen und sie um jeden Preis geheim halten will, hätte also ein hinreichendes Tatmotiv. Ob er wirklich der Täter ist oder nicht, bleibt jedoch zunächst im Dunkeln. Im weiteren Verlauf wird Wever als superspießiger Chef charakterisiert. Dem ist es auch sichtlich unangenehm, dass Haferkamp und Kreutzer in seinem Laden auftauchen und Biggi befragen. Von ihr erfahren sie von der Affäre Wevers und Böhmers. Diese Szenen gehen aus heutiger Sicht mit einem der Situation zum Trotze angenehmen Zeitkolorit in Bezug auf Supermarktausstattung und, vergleichen mit der Gegenwart, unaufgeregterem, stressfreierem Einzelhandel einher. Als die Presse Wind von der Sache bekommt, berichtet sie reißerisch, woraufhin kaum noch jemand bei Wever einkauft. Rufmordkampagne oder der richtige Umgang mit einem mutmaßlichen Mörder?
„Wir haben keine Beweise, nur Vermutungen.“
Je näher Haferkamp die Lampertz kennenlernt, desto verdächtiger erscheint auch sie ihm. Über sie zieht Wever gegenüber seinem Sohn kräftig vom Leder. Die gute alte (ähem…) autoritäre Erziehung selbst gegenüber einem bereits erwachsenen Sohn, Standesdünkel, reaktionäre, intolerante Ansichten gegenüber einer nicht 100%ig konformistischen Jugend – aber selbst gegen jegliche Moral verstoßen und seiner Frau fremdgehen. Ja, Herr Wever täte gut daran, sich endlich einmal den Stock aus dem Allerwertesten zu ziehen.
Dieser „Tatort“ vollzieht ungefähr zur Halbzeit eine Wendung, die durchaus zu erahnen war, wenngleich sie gekonnt verschleiert wurde. Eine Rückblende zeigt die Tat und was ihr vorausging. Spätestens jetzt wird klar: Im Prinzip haben hier alle Dreck am Stecken. Etwas naiv mutet der Plan an, sich nach Paris abzusetzen – in der Hoffnung, dort nicht gefunden zu werden…!? Der inszenatorische Höhepunkt ist das letzte Drittel, in dem kaum noch ein Wort gesprochen wird. Perfiderweise beobachtet man Wever minutenlang dabei, wie er verschiedene Mordszenarien durchspielt. Im nicht minder wortkargen Finale müssen Cornichon-Connaisseure ganz stark sein – und die junge Mariele Millowitsch wird gefordert, unter ihrem hier recht fiesen Minipli todesängstlich dreinzublicken.
Neben einem spannend und wohlstrukturiert erzählten Fall und einer einmal mehr überraschend rabiat und polternd vorgehenden Polizei ist „Der Feinkosthändler“ unter Gies’scher Federführung zu einem soziologisch interessanten Sittenbild doppelmoralischer deutscher Spießer, aber auch deren nachfolgender Generation geworden. Die klare Botschaft: Hört auf, euren Kindern reinzuquatschen und ihnen vorschreiben zu wollen, mit wem sie gehen dürfen und mit wem nicht! Apropos: Hafi und seine Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum) gehen erst spazieren, dann aus und hängen schließlich im Parkhaus fest, wo sie scherzhaft ihre gescheiterte Ehe und natürlich diesen Fall diskutieren. 7,5 von 10 Gläschen Sekt im Supermarktgang lasse ich gern springen.