Godards Streifzug gegen das kommerzielle Kino begann 1960 mit einem kommerziellen Erfolg. Filme wollten die Kritiker der Cahiers du Cinéma sehen, keine Streifen. Lebendiges statt Lebloses. Nichts anderes war für Truffaut und die Seinen das Mainstreamkino, das seit jeher Träume industriell herstellt und den Zuschauer wie ein liebes Mütterchen herzlich umsorgend einzulullen versteht, mit einem Arm ihn umschlingend, mit dem anderen sich noch an seiner Brieftasche vergehend. Dieses Kino ist kein Akt der Liebe. Dieses Kino hat sich festgefahren und muss erneuert werden, mögen die Cahiers-Kritiker sich gesagt haben und schritten zur Tat. Und obwohl Jean-Luc Godard in "Week End" auch schon wieder das Ende des Kinos proklamierte und damit im Prinzip das Ende der Nouvelle Vague, reicht deren Geist im Grunde bis in die Gegenwart und darüber hinaus.
Dieser Geist lebt. Er lebte und er wird immer weiter leben. Hollywood als die ewige, nie ruhende Gebärmaschine der großen Blockbuster bringt immer wieder reichlich Sprösslinge zur Welt, die mehr als nur ihren Existenzzweck erfüllen: die neben dem Kasse machen das Publikum für den Augenblick zu unterhalten vermögen (und auch dies muss mal sein). Dennoch aber sehen wir allzu häufig etwas Unbeseeltes und kläglich Unoriginelles, leidenschaftslosen Bombast und identitätslose Massenware, ein bloßes Produkt, das aus der Fabrik kam, die für ein Gewerbe produziert. Dessen ideologisches Problem ist nicht der fehlende Idealismus, sondern der Umstand, dass diesem Idealismus eine zu marktwirtschaftliche Idee zugrunde liegt.
Dieser Kaffee ist natürlich längst kalt. Doch im Wesentlichen geht es im anspruchsvollem Independentfilm heute wie damals und überhaupt schon immer um das Gleiche: um das Reaktionäre und Unkonventionelle. Godards unvisuelle Rebellion ist die maßgebliche Sprengung des Maßgeschneiderten, die Entsagung von der Erwartung. Seine Filme offenbaren, dass bei ihm narrativ und strukturell alles möglich ist. "Außer Atem" als Spielfilmdebüt trägt vielleicht noch das Kleid eines Gaunerfilmes, ist darunter jedoch ebenso bereits Drama, Essay und Sommerromanze, eine eigenartig neue Melange. Der Gangster erschießt auf der Fahrt von Marseille nach Paris schnell noch einen Polizisten und wird letztlich zum heroischen Ganoven und chronischen Autodieb banalisiert, der in der Hauptstadt unbekümmert das Herz der amerikanischen Studentin Patricia zu erobern versucht.
Zwischen Protagonistin und Protagonist knistert es im ersten für uns zusehenden Aufeinandertreffen. Der Ausgang solcher Begegnungen ist im Unterhaltungskino für jedermann sichtbar vorskizziert. Bei Godard jedoch weiß man nie, wohin alles führt. Also kriegen sie sich oder kriegen sie sich nicht? Schweigen sie oder diskutieren sie sich zu Tode? Patricia Franchini und Michel Poiccard: Jean Sedberg und Jean-Paul Belmondo. Sie, die fragile, aber selbstbewusste Studentin aus Amerika, die Journalistin werden will und gelegentlich auf der Champs-Élysées die New York Herald Tribune ausruft. Er, der unbeschwerte charismatische Schurke mit der Kippe im Mund, der sich mit seinem Daumen immerfort unwiderstehlich über die Lippen fährt und sich mit Zeitungen die Schuhe putzt.
Er ist in den Glanz in ihren Augen verliebt, liebt sie - irgendwie, liebt sie, aber nicht so, wie sie denkt. Und sie - sie weiß es nicht so recht, will noch erforschen, ob sie in ihn verliebt sei. Geredet wird eben viel bei Godard, analysiert, philosophiert, reflektiert. Gerade darin liegt etwas Authentisches, etwas Natürliches. Nicht immer nur wird der perfekt zusammengestauchte Satz von den Lippen gelassen. Während Hollywoods Figuren "Ich liebe dich" ausspeien, formulieren Godards Dialektiker: "Ich liebe dich, weil…“ Der Dialog bricht hierbei mit der klassischen Form, zerfällt aus seinem Korsett bisweilen ganz und gar in lose Worte und Blicke, verbale und nonverbale Bausteine.
"Außer Atem" ist eine einzige Abkehr von dem Regelmäßigen. Symbolisch wendet sich Belmondo bereits in den ersten Minuten direkt an den Zuschauer, der in der atemlosen Autofahrt bei swingender Musik zum Beifahrer wird. Anhalterinnen stehen am Straßenrand - und werden stehen gelassen, die sind Belmondo doch zu hässlich. Auch oder vor allem visuell zelebriert der Film dabei die Loslösung vom Regelwerk, wenn sich das fahrende Automobil via Jump Cut von Ort zu Ort beamt. Ein Wimpernschlag kann eine Welt bedeuten. Die Handkamera filmt; die Bilder springen. Das Kino feiert seine Freiheit.