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Kommissar Martin Schmidts (Martin Hirthe, „Jeder stirbt für sich allein“) zweiter von nur drei Berliner Fällen wurde im Dezember 1976 als 69. „Tatort“ erstausgestrahlt. Das Drehbuch stammt von Günter Gräwert und Jens-Peter Behrend, Gräwe übernahm auch die Regie – zum zweiten von insgesamt fünf Mal für die öffentlich-rechtliche Krimireihe.

Unter einem Vorwand überredet der West-Berliner Horst Bremer (Marius Müller-Westernhagen, „Aufforderung zum Tanz“) seine neue Freundin Erika Marquart (Gisela Dreyer, „Zeit der Empfindsamkeit“), sich an einer Fluchthilfe aus der DDR zu beteiligen; angeblich gehe es um Gisela (Angelika Bender, „Schattenreiter“), die Verlobte seines Bruders. Diese sieht Erika Marquart zum Verwechseln ähnlich, zudem verdiene sie 5.000 DM damit – genau die Summe, die sie ihrem Chef schuldet. Der Plan sieht vor, sich mit Erika auf die Transitstrecke in Richtung BRD zu begeben, an einem Rastplatz Gisela einzusammeln und Erika im Kofferraum des Wagens des Komplizen Martin Poll (Götz George, „Ich spreng' euch alle in die Luft“) zu verstecken. Mit Erikas Papieren soll Gisela problemlos die BRD erreichen können. Doch was Erika noch nicht weiß: Die Geschichte um Bremers Bruder ist frei erfunden, die Beweggründe für diese Fluchthilfe sind rein kommerzieller Natur, der Grund für Bremers Beziehung zu ihr ebenfalls – gezielt hatte er nach einer Frau gesucht, die die gewünschte Ähnlichkeit aufweist. Als Erika das Spiel während der ohnehin schon unterbrechungsreichen, nicht wie geplant verlaufenden Fahrt durchschaut, gerät sie in Rage und verweigert ihre weitere Teilnahme. Im Streit mit Bremer stürzt sie unglücklich und verstirbt, als sie sich den Kopf aufschlägt. Um kein weiteres Aufsehen zu erzeugen, versteckt Bremer ihre Leiche notdürftig in einer Betonröhre. Doch der Leichenfund ruft Hauptkommissar Schmidt auf den Plan…

Ein geheimnisvoller Auftakt, in dem einer Frau nachgestellt wird. Es vergeht geraume Zeit, bis jemand das erste Wort spricht und sich dem Publikum erschließt, was hier gespielt wird. Außer einmal relativ zu Beginn, scheinbar überflüssig, tauchen Kommissar Schmidt und sein Kompagnon Kommissar Hassert (Ulrich Faulhaber, „Gesundheit“) in der Handlung auf, ansonsten treten die Ermittler lange Zeit überhaupt nicht in Erscheinung. Stattdessen zeigt dieser „Tatort“ minutiös den Ablauf des Plans und die Ereignisse auf der Transitstrecke, was nervenzerrend spannende Einblicke in diese gewährt – sei es während Konfrontationen mit der DDR-Volkspolizei oder beim Eingespanntwerden als Pannenhelfer für eine Reisegruppe ins Fichtelgebirge, sei es, als Erika Marquart bewusst wird, dass sie nur benutzt wird. Im weiteren Verlauf jedoch avanciert dieser Fall gar zu einer Art Crossover mit den Münchner Kollegen Veigl (Gustl Bayrhammer, „Hatschipuh“) und Lenz (Helmut Fischer, „Monaco Franze – Der ewige Stenz“), denn die Spur führt in die bayrische Landeshauptstadt.

„Transit ins Jenseits“ (welch ein Titel!) ist zudem exzellent gefilmt und begnadet geschauspielert: Der besondere Clou ist natürlich die Mitwirkung Marius Müller-Westernhagens, der einmal mehr seine schauspielerischen Qualitäten unter Beweis stellt, und insbesondere Götz Georges in seinem dritten „Tatort“, der bekanntlich wenige Jahre später zum Kultkommissar schlechthin aufsteigen und sich als Duisburger Schnauzbartbulle mit sozialen Gewissen in die Herzen der Zuschauer rüpeln sollte. Musikalisch bewegt sich dieser „Tatort“ zwischen Discofunk, viel Bass/Synthie/Percussion-Spannungswaberbeat, etwas Schlager aus dem Radio und dem „Der Pate“-Thema. Bei einem Discobesuch übertreibt es der Kameramann mit seinem rhythmischen Zooms, die der Szene eine Dynamik verleihen sollen, die die Musik dort nicht hergibt. Ansonsten kann sich das alles sehen und hören lassen.

Das Beamtenplenum in der zweiten, der „Ermittlungshälfte“, wird zu einer (aus heutiger Sicht etwas plump integrierten) Lehrstunde fürs Publikum, wenn das Für und Wider von Fluchthilfe erörtert und die Gesetzeslage erläutert wird. Wie viel Schuld Bremer und Poll tatsächlich vor allem unter ethischen Gesichtspunkten trifft, müssen die Zuschauerinnen und Zuschauer mit sich selbst ausmachen. Es überwiegt jedoch der Eindruck, dass die Zerstörung eines Lebens zwecks vermeintlicher „Rettung“ eines anderen und eines gewissen Reibachs billigend in Kauf genommen wurde. Ein Kalter-Kriegs-„Tatort“ der Sonderklasse!

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