„Warum sind Sie so erregt?“
Am 28. April 1974 betrat eine neue Ermittlerfigur das Parkett des WDR-„Tatorts“: Hansjörg Felmy („Buddenbrooks“, „Der Henker von London“) verkörperte Kommissar Haferkamp aus Essen, einen in Scheidung lebenden, Bier und Korn alles andere als abgeneigten, drahtig schlanken Mann in den besten Jahren, der unter seiner betont sachlichen Analytik und scheinbaren Gefühlsarmut seine Desillusionierung in Bezug aufs große Lebensglück zu verbergen scheint. Das Drehbuch Karl Heinz Willschreis inszenierte Wolfgang Becker („Ich schlafe mit meinem Mörder“), der damit innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte. Neun weitere Episoden unter Beckers Regie folgten, die meisten davon mit Haferkamp als Ermittler. Haferkamp zur Seite steht sein Assistent Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge, „Der Nachtkurier meldet …“), ein etwas untersetzter und einfach gestrickter, aber nicht unsympathischer Malochertyp. Haferkamp ermittelte bis ins Jahr 1980 und war der meistbeschäftigte „Tatort“-Kommissar jener Ära.
„Statistik ist mein Hobby!“
Kommissar Heinz Haferkamp von der Essener Kripo stellt Serieneinbrecher Brossberg (Relja Bašić, „Malastrana“) und wird beschossen. Er zielt in Richtung des Mündungsfeuers, schießt zurück – und tötet dabei Brossbergs unbewaffneten Bruder. Brossberg wird verhaftet und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Noch im Gerichtssaal schwört er Rache: sowohl an Haferkamp als auch an seiner ehemaligen Geliebten Frau Pallenburg (Christine Ostermayer, „Der zerbrochene Krug“), die ihn an die Polizei verriet. Nach acht Jahren wird er aus der Haft entlassen und Haferkamp rechnet nicht wirklich damit, dass sich Brossberg noch seinem Vergeltungsschwur verpflichtet fühlt, doch Frau Pallenburg scheint das ganz anders zu sehen – und quartiert sich kurzerhand schutzsuchend beim Kommissar ein…
„Zwei Weiber, die gemeinsam auf mich losgehen!“
Nach der aufsehenerregenden Schießerei im Prolog kristallisiert sich bald heraus, dass unter Kommissar Haferkamp die Fernsehsiebziger wieder so grau wurden, wie sie in Deutschland wirklich waren. Die Wohnzimmer-mit-Stehlampe-Ästhetik des Interieurs wirkt mehr spießig als gemütlich, sieht jedenfalls so gar nicht nach Post-‘68er-Freiheit aus. Haferkamp ist von seiner Frau Ingrid (Karin Eickelbaum, „La Femme, le Mari et la Mort oder Über die Schwierigkeiten, seinen Mann umzubringen“) geschieden, wenngleich sie auf freundschaftlicher Basis weiterhin eine Rolle in seinem Leben – und in den „Tatorten“ – spielt. Aus den Dialogen mit Haferkamp lässt sich heraushören, dass man eine glückliche Ehe einfach nicht auf die Reihe bekommen hat, ohne dass konkret würde, woran sie letztlich genau gescheitert ist. Wahrscheinlich gibt es diesen einen bestimmten Grund gar nicht.
„Sie sind nicht logisch, Sie sind gemein!“
In Haferkamps nur von einem „Casablanca“-Filmplakat aufgebrochener Wohntristesse (wähnt er sich als eine Art Hafi Bogart?) platzt also plötzlich diese verzweifelte Frau hinein. Zu trinken hat er leider nur Bier und Korn im Haus; und obwohl er sich gerade sein karges Abendessen zubereitet – Spiegeleier –, isst er kaum etwas. Dies dürfte seine körperliche Statur erklären, mehr Hagerkamp denn Haferkamp. Versuche, die Pallenburg mit streifenpolizeilicher Hilfe wieder loszuwerden, quittiert sie mit Selbstmorddrohungen, drunter macht sie’s nicht mehr. Also bleibt sie und lernt auch Ingrid, Haferkamps Ex, kennen. Im Zuge eines Streitgesprächs scheinen sich beide Weibsbilder gegen ihn zu verschwören. Auch das noch! Da hilft nur noch die Kneipe, ordentlich einen hinter die Schrankwand nageln. Hatte jemals zuvor ein „Tatort“-Kommissar derlei Probleme?
Beeindruckende Bilder aus einer Stahlfabrik leiten über in gewitzte Wendungen, eine davon: Ingrid ist schlauer als Haferkamp. Weniger Wendung als vielmehr zu erwarten ist es indes, dass Brossberg tatsächlich noch auf Rache sinnt. Keine Täter- oder Motivsuche in dieser Episode, ist man anzunehmen geneigt. Oder etwa doch…? Auf den schleswig-holsteinischen „Tatort“-Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) entfällt der damals noch obligatorische Gastauftritt. Haferkamp ist aufgerufen, listig und immer ein, zwei Schritte vorausdenkend zu agieren, wie ihm die Konfrontation mit Brossberg in der Stahlfabrik lehrte. Kreutzer versucht seinem Chef so gut wie möglich zuzuarbeiten, konnte dessen Kohlenmonoxidvergiftung jedoch auch nicht verhindern.
Das Finale fällt ebenso betrunken wie aufregend aus, wurde spannend und mit überraschend viel Stilwillen inszeniert. Durch diese Episode zieht sich ein Panflötenspiel als musikalisches Thema, was nach Jahren der Panflötenomnipräsenz in deutschen Fußgängerzonen etwas befremdlich wirken mag, jedoch durchaus seinen Teil zur atmosphärischen Ausgestaltung dieses Falls beiträgt, der mit seinen Anleihen beim Film noir und einer interessanten Charakterisierung Haferkamps einen starken Essener Einstand bildete.
Die Figur Haferkamp nimmt hier zumindest in Teilen bereits ihren Nachfolger Horst Schimanski (Götz George) vorweg; und da ist es sicher kein Zufall, dass der Schimmi-Erfinder und spätere „Tatort“-Routinier Hajo Gies drei Jahre später als „Tatort“-Regisseur ausgerechnet mit einer Haferkamp-Episode („Das Mädchen von gegenüber“) debütieren sollte.