Diese frühe Gemeinschaftsarbeit von Luis Bunuel und Salvador Dali ist ein rund 20-minütiger Trip, der ohne eine erkennbare Handlung zusammenhanglose und rätselhafte, für damalige Verhältnisse gleichermaßen schockierende und provozierende Bilder aneinanderreiht, die laut Bunuel „aus der Begegnung zweier Träume hervor[ging]“, und man gab sich allergrößte Mühe, „keine Idee, kein Bild zuzulassen, zu dem es eine rationale, psychologische oder kulturelle Erklärung gäbe“. Diese beiden Aussagen verdeutlichen es: In „Der andalusische Hund“ sollte man von vornherein gar nicht erst versuchen, irgendwas hineinzuinterpretieren. Trotzdem machten sich in der Folgezeit zahlreiche Kritiker an die Analyse des Films und kamen zu interessanten Ansätzen, die - wenn richtig argumentiert wurde - sogar einleuchtend erscheinen. Ich will mich dennoch aus allen Interpretationsversuchen heraushalten und mich auf das Formale beschränken, denn dazu gibt‘s genug zu sagen.
Die mit dem Zwischentitel „Es war einmal...“ eingeleitete Eingangssequenz, die eigentlich etwas Märchenhaftes vermuten läßt, gelangte schnell zu großer Berühmtheit, aber auch 75 Jahre nach Entstehung dieses stummen Kurzfilms wird sie immer mal wieder zitiert. Zwar ist inzwischen die Schockwirkung ein wenig abhanden gekommen, aber ordnet man „Der andalusische Hund“ im historischen Kontext ein, so kann man sich schon sehr gut vorstellen, wie das anno 1929 noch weitaus leichter zu erschreckende Publikum reagierte: Klar, ich spreche von dem Rasiermesser, das in Nahaufnahme aus dem Nichts heraus durch das Auge eines Mädchens fährt und es brutal entzwei schneidet, kurz nachdem uns eine Wolke präsentiert wurde, die sich vor den Mond schiebt. Natürlich kann man spätestens nach dreimaligem Begutachten erkennen, daß bei dieser Sekundenbruchteile langen Szene ein totes Tier herhalten mußte (deutlich sichtbares Fell rund um das Auge), aber das nur nebenbei.
Nach dem grausamen Auftakt folgt sogleich ein plötzlicher Szenenwechsel, der einen äußerst seltsam gekleideten Radfahrer zeigt, der ein ominöses gestreiftes Kästchen mit sich herumschleppt, das uns noch mehrere Male über den Weg laufen soll. Dann kippt er mit seinem Fahrrad um und bemüht sich im Folgenden noch nicht einmal, wieder aufzustehen. Eine junge Frau, die ihn dabei beobachtet, kümmert sich ebenfalls nicht weiter darum, sondern sortiert lieber Teile seiner Kleidung auf dem Bett, bis sie den Radfahrer hinter sich im Zimmer entdeckt. Beide betrachten seine Hand, auf der Ameisen aus einem Loch herauslaufen. Eine Überblendungsfolge schließt sich an: In Nahaufnahme bekommen wir in Nahaufnahme das Achselhaar einer Frau zu sehen, daraufhin einen Seeigel, schließlich den Kopf einer anderen Frau in Kreisblende, die mit einem Stock versucht, eine abgetrennte Hand aufzuheben. Das Geschehen geht immer so weiter und erreicht seinen Höhepunkt sicherlich in der Szene, in der der Radfahrer seine Frau verfolgt und dabei an zwei Seilen Korkstücke, eine Melone, zwei Priester (! Einer davon Salvador Dali) und zwei Klaviere, auf denen Tierkadaver liegen, hinter sich herzieht.
Das Geschehen ist komplett verrückt, nichts ergibt einen Sinn. Selbst das kleine Kästchen, das immer wieder bis zum Schluß auftaucht, hat keine weitere Funktion als nur weiterhin für Verunsicherung beim Zuschauer zu sorgen. Und damit nicht genug: Oft genug geschieht es, daß sich die Schauplätze der Ereignisse von Minute zu Minute grundlegend bar jeder Logik verändern, d.h. ein Raum führt im ersten Moment in ein anderes Zimmer, das sich wenig später in Luft aufgelöst hat. Stattdessen tritt man plötzlich an den Strand. Oder ein Mann wird in einer Wohnung erschossen und fällt von der einen auf die andere Sekunde im Park tot um. In einer ganz anderen Szene verwandelt sich ein Buch von Schnitt zu Schnitt in eine Pistole.
Weiterhin merkwürdig die irritierenden Zwischentitel: Das „Es war einmal...“ am Anfang des Films habe ich ja bereits angesprochen, doch dabei bleibt es nicht. So wird schon mal ein „Acht Jahre später“ eingestreut, obwohl die Handlung vor und nach der Einblendung völlig normal, ohne jeden erkennbaren Zeitsprung, weiterläuft.
Ungemein veredelt wird der Film durch die sich ständig wiederholende, monotone Verwendung einer Tangomusik, der erst Jahrzehnte später als Untermalung hinzugefügt wurde. Sie paßt ausgezeichnet zu der Stimmungslage der Bilder und erzielt eine hypnotische Wirkung.
Zu Bunuels Verdruß wurde sein Werk von der zeitgenössischen Kritik wohlwollend, teilweise sogar begeistert aufgenommen (der Film sei „poetisch“, so hieß es) - und das trotz aller Provokationen. Einen Skandal bewirkte der Regisseur erst 1931 mit einem echten Klassiker des Surrealismus, „Das goldene Zeitalter“. Darin brach er etliche Tabus und machte selbst vor giftigster Blasphemie nicht halt (u.a. indem er eine Episode aus Marquise de Sades berühmt-berüchtigten „Die 120 Tage von Sodom“ in aller Ausführlichkeit schilderte).
Fazit: Luis Bunels Erstlingswerk „Der andalusische Hund“ muß man erlebt haben, Worte geben die an Rätselhaftigkeit nicht zu überbietenden Bilder („Eraserhead“, den ich in der Beziehung bis dato für das Nonplusultra gehalten habe, kommt da bei weitem nicht heran), die hier zu sehen sind, nur unzureichend wieder. Alle nur denkbaren Konventionen des internationalen Erzählkinos werden über den Haufen geworfen: Die Handlung ist hinten und vorne mysteriös, mit Provokationen bespickt, ohne Sinn, die Wahl der Zwischentitel willkürlich und unpassend. Obwohl der Film nach 75 Jahren wahrscheinlich nur noch wenige bestürzen wird, ist er unbestritten - wenn man bereit ist, sich in die damalige Zeit zurückzuversetzen - ein bedeutendes, legendäres und faszinierendes Stück Filmgeschichte. 9/10.