Kaum eine historische Figur polarisiert mehr als Ernesto „Che“ Guevara; für die einen ist er nichts weiter als ein Anarchist, der auf Kosten seiner bornierten Mentalität mehrere Menschenleben zu verantworten hat. Dagegen dient er für die politische Linke im Kampf gegen eigene historische Fehler, immer noch als Vorzeigemensch. Auch nach seinem Tod ist er das Sinnbild für den Kampf gegen Ungerechtigkeit und imperialistische, kapitalistische Machtstrukturen. Selbst Jean Paul Sartre zollte dem gebürtigen Argentinier einst größten Respekt, indem er ihm attestierte, der "vollkommenste Mensch seiner Zeit" zu sein.
Egal wie man „Che“ Guevara rückblickend betrachtet, er war zweifelsohne ein besonderer, interessanter Mensch, denn niemand verkörperte mehr Gott und Teufel zugleich, wie der kubanische Revolutionär.
Folgerichtig ist ein Film über „Che“ ein riskantes Projekt, da es schlichtweg unmöglich erscheint alle Parteien zu befriedigen.
Obwohl Walter Salles in „Die Reisen des jungen Che“ überhaupt nicht die umstrittene Zeit als Revolutionär beleuchtet, weist er trotzdem präventiv schon vor Beginn des Films darauf hin, dass es sich hierbei nur um das Abenteuer zweier junger Männer, nämlich Ernesto Guevara de la Serna (Gael Garcia Bernal) und dessen Freund Alberto Granado (Rodrigo de la Serna), handelt.
Und mit dieser Ankündigung untertreibt er nicht einmal, denn „Motorcycle
Diarys“ ist tatsächlich nichts anderes als ein „Road-Movie“ bzw. die Visualisierung von „Che“ Guevaras Reisetagebücher.
Die Vielfalt an Erlebnissen könnte größer nicht sein. Zusammen erleben die beiden Freunde alles, was mit solch einer spontanen Reise oftmals verbunden ist. Glück und Pech scheinen eng mit einander verknüpft, aber die große Überraschung, der entscheidende Anlass in Hinblick auf die Entwicklung von dem jungen Medizinstudenten zu einem Revolutionär, sucht man vergebens. Zunächst imponieren vielmehr die großartigen Impressionen landschaftlicher Schönheit. Von bergigen Gebieten bis hinzu flachem Terrain, Lateinamerika wird naturalistisch visualisiert.
So unspektakulär, oberflächlich die Reise des jungen Che zunächst auch wirken mag, irgendetwas veranlasste den späteren Revolutionär dennoch diesen Trip als ein äußerst prägendes Erlebnis zu beschreiben.
Ernesto Guevara hatte sein Medizinstudium nahezu beendet, er wuchs wohlbehütet auf und dennoch hat er das Bedürfnis nach einem Abenteuer.
Er wollte die unendlichen Weiten des Kontinents erforschen und nebenbei sein ausgeprägtes Pflichtbewusstseins als Arzt nachkommen, indem er mit Alberto Granada bei seiner letzten Station in einer Einrichtung für Leprakranke arbeitete.
Allerdings wurde ihm bei der Entdeckung des Kontinents etwas anderes bewusst, das ihn konsternierte. Es war der unerwartet erschreckende Kontrast zwischen Arm und Reich, den Landbesitzern und Arbeiter. Seine sozialen Aktivitäten beschränkten sich bisher „nur“ auf die Pflichten als Arzt, aber nun war er mit einem anderen, von ihm unterschätzten Problem, konfrontiert. Sukzessiv manifestiert sich, weshalb der charismatische, junge Arzt selbst noch nicht weiß, wohin sein Weg führen wird. Er war alles andere als ein Proletarier. Für ihn war die Reise durch Lateinamerika der Anlass den Horizont auf weitere Probleme außerhalb der mangelnden medizinischen Versorgung zu erweitern. Die Unzufriedenheit wurde nun klar definiert.
Zuletzt bei der Station für Leprakranke, erreichte die Entwicklung ihren Höhepunkt. Die Hilfsbedürftigen sind nicht nur schwerkrank, sondern auch Ausgestoßene, Unerwünschte in der Gesellschaft. Symbolisch wurde der Eindruck durch die Trennung der Station vom Festland verstärkt. Einsam, getrennt von einem Fluss, vegetieren die Kranken dahin ohne einen Kontakt zur Gesellschaft.
Schilderungen von Not und Elend und den Kontrast zwischen Arm und Reich im lateinamerikanischen Kontinent, werden einige als politische Stellungnahme werten, was allerdings in sich schon zerfällt, weil die Erzählungen ausschließlich auf „Che“ Guevaras eigene Erfahrungen basieren. Walter Salles schildert unaufdringlich, fast schon oberflächlich, die Niederschriften des jungen Argentiniers. Es wird nie mit Nachdruck auf Ungerechtigkeit oder verkapptes Sklaventum hingewiesen. Salles ist vielmehr darum bemüht die komplexe Veränderung im Leben des jungen, noch orientierungslosen, Ernesto Guevara subtil zu beleuchten. Weder Prämissen oder Folgerungen bzw. Bewertungen eines Unbeteiligten sind im Film integriert.
Hilfreich in Hinblick auf den aufklärenden Charakter des Films, wirkt sich ohne Zweifel die Besetzung der Protagonisten aus. Gael Garcia Bernal verkörpert Ernesto Guevara in jeder Situation meisterhaft. Ob den nach Luft ringenden Asthmakranken oder einen konsternierten, nachdenklichen jungen Mann, es gibt faktisch keine Aufgabe, die der junge Mexikaner nicht beeindruckend erfüllt.
Dagegen überzeugt Rodrigo de la Serna als zielstrebiger, extrovertierter Gegenpol in Form von Alberto Granado. Gegenseitig werden hier großartige Bälle an Schauspielkunst zugespielt.
Letztendlich erfüllt „The Motorcycle Diaries“ seine eigene Ankündigung. Der Film beleuchtet lediglich das Abenteuer zweier junger Männer, ohne dabei politisch Stellung zu beziehen. Subtil, begleitet von beeindruckenden Bildern herrlicher Landschaften, wird der Sinneswandel einer historisch umstrittenen Figur beleuchtet, wobei dem Betrachter genug Freiräume gelassen werden, um einfach den Charakter des „Road-Movies“ genießen zu können oder die Entwicklung des Ernesto Guevara nachzuvollziehen. (7,5/10)