Es tut weh, also lebe ich noch.
Fatih Akins neuer Film "Gegen die Wand" wurde ja im Vorfeld bereits heiß diskutiert. Unüblich für einen deutschen (Autoren?-)Film, zumal der Grund für die Diskussion weniger die Tatsache war, dass er als erster deutscher Film nach 18 Jahren den goldenen Bären bekam, sondern weil die Porno-Vergangenheit der türkischen Hauptdarstellerin für einen Bild-Skandal herausgekramt wurde. Eine ganz primitive Masche, weil gerade hier kein billiger Hollywood-Mainstream vorliegt, bei dem Skandale schon zu Werbezwecken dazugehören. "Gegen die Wand" ist ein hervorragendes Stück des jungen eutschen Kleinformatkinos, ein Liebesfilm, ein Lebensfilm mit Charakter.
Es geht um die junge in Deutschtürkin Sibel, die unter dem Druck ihrer konservativ-religiösen Familie nicht das freizügige Leben einer jungen deutschen Frau ausleben kann. Als sie sich mal wieder die Pulsadernaufgeschnitten hat, trifft sie in einem Krankenhaus auf den heruntergekommenen, lebensmüden Türken Chahit. Widerwillig hilft er ihr und heiratet sie zum Schein, damit sie von nun an tun und lassen kann, was sie will. Damit wird jedoch auch Chahits kaputtes, zielloses Leben kräftig umgekrempelt - er verliebt sich in Sibel. Nur zögerlich ändert er sein zunächst schroffes, aggressives, asoziales Verhalten, während Sibel sich mit Dutzenden anderer Männer herumtreibt und im Untergrund von Hamburg zwischen Drogen und Punk&Rock versumpft. Erst als es zu spät ist, erkennen die beiden, was sie füreinander empfinden: Chahit schlägt einen Mann im Affekt aus Eifersucht wegen Sibel tot und muss ins Gefängnis; Sibel wird daraufhin von ihren Eltern verstoßen. Wieder ist sie am Boden zerstört, wieder ist sie drauf und dran, sich umzubringen...
Akin ist richtig professionell geworden. Er erzählt hier eine intensive, authentische Geschichte, wie sie nur das Leben schreibt, in rauhen, körnigen und ungelackten Bildern. Doch anders als in "Kurz und Schmerzlos", seiner schönen frühen Gangsterballade, merkt man der Geschichte eine deutliche Reife an. Akin könnte tatsächlich einmal ein ganz wichtiger deutscher Autorenfilmer werden, denn "Gegen die Wand" zeigt bereits alle Eigenschaften und einen eigenen unverwechselbaren Charakter (Akin machte Drehbuch, Produktion und Regie), wie die Filme von z.B. Tykwer oder Fassbinder es auch tun. Der Film bleibt die ganze Zeit über so wild und zügellos, dass man nie weiß, was als nächstes kommt. Denn es kommt immer anders. Genrekonventionen beugt sich der Film nicht und hat damit ebensowenig Probleme mit komödiantischen Elementen, Nacktheit&Sex, wie mit Schmerz, Blut und tiefer Leidenschaft. Dabei bleibt die Kamera immer sehr nah und intim an den großartig spielenden Akteuren, ohne sie bewusst in ein wertendes Licht zu stellen. Sie leben einfach, spürbar intensiv, und laufen auch mal in eine schmerzvolle Sackgasse.
Insgesamt bleibt Akin seinem dezent-poetischen Stil treu: Er erzählt immer noch eine Geschichte, eine ehrliche Liebesgeschichte, und die präzise Milieudarstellung ordnet sich dem unter. So gliedert er seine Handlung in mehrere Akte, die durch orientalische musikalische Zwischenspiele (mit der wunderbaren singenden Idil Üner, bekannt aus "Im Juli" und "Kurz und Schmerzlos") aufgeteilt sind. Als Stilmittel greift er neben seiner kantigen, mitreißenden Bildsprache auf viel Schweiß, Blut und Tränen zurück. Schmerz und Leid werden oft stark visualisiert, von blutigen Schlägereien bis zu Sibels Selbstmordversuchen. Es wird viel geweint und geschrien, und Blut darf ruhig mal spritzen getreu dem Motto: "Wenn es schmerzt, weiß ich, dass ich lebe". Die Schauspieler bringen das sehr persönlich rüber, sind mit viel Herzblut dabei. Gelungen und nachvollziehbar sind auch die Entwicklungen der Charaktere: Wie Chahit sich schwerlich vom asozialen Penner zum ehrlichen, vernünftigen Erwachsenen mausert und Sibel in dem Sumpf ihrer naiven Lebenslust beinahe ertrinkt und schließlich doch buchstäblich gerettet werden kann. Neben den wuchtig spielenden Hauptdarstellern glänzen auch alle brilliant besetzten Nebenrollen, allen voran Akins Bruder Cem, der hier Sibels Bruder mimt. Erfreulich für den eingefleischten Fan ist noch, dass das ein oder andere Gesicht aus Fatih Akins früheren Filmen mit dabei ist (Mehmet Kurtulus als Barkeeper mit Vollbart in Istanbul).
Es ist klar, dass dieser Film den goldenen Bären bekommen hat. Wie kaum ein anderer Film in letzter Zeit vermittelt "Gegen die Wand" wirklich ein Anliegen, er offenbart eine ganz eigene (auch kulturelle) Identität, die sich konsequent hält. Dabei funktioniert er als schillernder, kritischer und detailverliebter Ausschnitt eines offenen, toleranten Gesellschaftsbildes ebenso, wie als intensive, ehrlich-direkte und lebensnahe Liebesgeschichte mit einem schön abklingenden Ende jenseits vom platten Happy-End oder einer unnötig negativen Katastrophe. Eigentlich ganz klassisch in erzählerischer Hinsicht.
Der Film als Ganzes und die vielen unvergesslichen magischen Momente zwischen Traurigkeit und Glück nehmen den Zuschauer gefangen und zeugen vom großen Talent des deutschen Filmemachers Fatih Akin. 10/10.