Es gibt Filme, die braucht man nur einmal gesehen zu haben und vergisst sie nie wieder. „Beim Sterben ist jeder der Erste“ (die Eindeutschung des Titels klingt zwar knackig, ist aber inhaltlich unpassend) gehört zweifelsfrei zu dieser Gattung. Entstanden in den 70ern, wie könnte es auch anders sein, brach der Film sowohl Tabus als auch die Erwartungshaltung der Zuschauer, die eine abenteuerlustige Floßfahrt erwarteten und stattdessen einen völlig verstörenden Actionthriller vorgesetzt bekamen, der tiefer geht, als es der Inhalt auf den ersten Blick vermuten lässt.
Wer ahnt schon, was alles passieren kann, wenn vier Großstädter ein „Back-to-the-Basics“-Wochenende einlegen wollen, mit Kanufahrt, Zelten, Angeln und allem was dazu gehört. So machen sich der begeisterte Gitarrenspieler und überkorrekte Drew (Ronny Cox), der muskelbepackte Macho Lewis (Burt Reynolds), der unscheinbare Familienvater Ed (Jon Voight) und der dickliche Bobby (Ned Beatty) auf, um auf einem wilden Fluss die Alltagssorgen für ein paar Tage zu vergessen. Zudem ist es die letzte Gelegenheit, dieses Gewässer per Boot zu erkunden, denn bald soll die ganze Gegend geflutet werden.
Regisseur John Boorman („Der Schneider von Panama“, „Zardoz“) gelingt das Kunststück, sogar die eigentlich unspektakulären Anfangsminuten mit einer unbeschreiblich bedrohlichen Atmosphäre zu unterlegen. Bereits das Eintreffen der vier Kumpels in einem Hinterwäldler-Dorf, dessen Bewohner sie dazu benötigen, ihre Autos am Zielort Aintry zu parken, hat es etwas befremdliches an sich. Die sogenannten „Rednecks“ verhalten sich äußerst seltsam und sehen dementsprechend deformiert aus. Unvergesslich ist das „Banjo-Duell“ von Ronny Cox mit einem einheimischen Jungen, der einen genetischen Fehler aufweist, möglicherweise durch Inzest verursacht. Darüber wird man im Unklaren gelassen, und das wird nicht das letzte Mal gewesen sein.
Zunächst verläuft der Ausflug reibungslos, doch richtig beschwingte Stimmung will nie aufkommen. Unterschwellig fährt die Angst mit, manchmal bekommt die Unsicherheit auch anderweitig Ausdruck, beispielsweise durch nächtliche Geräusche (die man nicht hört, sondern die nur Lewis wahrnimmt) oder durch den Banjo-Jungen, der plötzlich auf einer über den Fluss führenden Brücke steht. Obwohl die Ausflügler die von der Zivilisation unberührte Natur genießen, stellt sich für den Zuschauer nur die Frage, wann es mit der heilen Welt vorbei ist. Und wie krass so ein Einschnitt vonstatten gehen kann, hat kaum ein Film je intensiver gezeigt als „Deliverance“:
Als Ed und Bobby ein Stückchen vorausfahren und kurz an Land gehen, stehen ihnen plötzlich zwei Hinterwäldler gegenüber, einer mit Flinte in der Hand. Völlig überrumpelt von dieser Situation wird Ed an einen Baum gefesselt und Bobby gezwungen, sich auszuziehen. Die folgende homosexuelle Vergewaltigung hat Filmgeschichte geschrieben und ist an Sadismus kaum mehr zu überbieten. Dabei beschränkt sich die Kamera eigentlich nur auf Nahaufnahmen der Gesichter, aber das ist viel effektiver als eine grafisch drastische Inszenierung. Quälende Minuten vergehen, bis ein unvergesslicher One-Liner („Du wirst mir jetzt einen blasen und ich rate dir: Blas gut!“) das Ende der grausamen Szenerie einläutet. Lewis steht in bester Hollywood-Hero-Tradition mit gespanntem Bogen bereit und macht einen Peiniger kalt, der andere kann entkommen. Selten zuvor hat man einen Filmtod derart herbeigesehnt wie in diesem Moment.
Eine anschließende Diskussion über das weitere Handeln (es wird beschlossen, den Toten im Wald zu begraben, über die Vorkommnisse zu schweigen und die Flucht zu ergreifen) gerät sehr ausführlich und lässt die Handlung äußerst glaubwürdig erscheinen.
Von nun an zählt nur noch das Überleben, ohne dass man weiß, wieso einem das gerade widerfahren ist, wie viele Feinde es eigentlich gibt und wo sie auf einem lauern. Weil man als Zuschauer nie mehr weiß als die Charaktere, gibt das dem Film einen weiteren Spannungsschub.
Bald darauf ist der erste der Vier tot: Mitten in den Stromschnellen stürzt Drew ohne Schwimmweste ins Wasser, woraufhin beide Kanus kentern und die restlichen Drei in einer Bucht in der Falle sitzen. Auffällig ist die Tatsache, dass wieder eine Frage unbeantwortet bleibt, nämlich ob Drew aus eigenem Antrieb ins Wasser sprang oder erschossen wurde, wie Lewis vermutet. Wäre tatsächlich ein Schuss gefallen, hätte man ihn aufgrund der Stromschnellen nicht gehört.
Die Situation in der Bucht verändert die Charaktere entscheidend:
Der Helden-Typus Lewis ist aufgrund einer Beinverletzung kampfunfähig und scheint fast zu resignieren. Deshalb wird Ed vom unauffälligen Familienvater zum Action-Held stilisiert, als er die Klippen hochsteigt und in einer an Spannung kaum zu toppenden Sequenz einen Redneck tötet, wobei er sich selbst verletzt. Ob das glaubwürdig ist, sei dahingestellt, aber auf jeden Fall ist das zwingend notwendig, um einen Ausweg aus der hoffnungslosen Situation zu finden. Der zu Beginn labil wirkende Bobby bleibt aufgrund dessen, was ihm im Wald widerfahren ist, erstaunlich gefasst. Dieser Sachverhalt zeigt sich besonders gut am Schluss bei einem Familienessen, bei dem Ed weinend vor seinem Teller sitzt und Bobby keinesfalls Anzeichen seelischer Schäden macht. Der mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen scheinende, fröhliche Drew wurde mit dem Beginn der Hetzjagd zu einem nervlichen Wrack, was ihm letztendlich wohl das Leben kostete.
Obwohl die drei Verbliebenen mit dem Leben und wahrscheinlich ohne juristische Konsequenzen davonkommen, sitzt der Schock beim Zuschauer unendlich tief. Zu grausam und vor allem zu undurchsichtig ist das, was eben passiert ist. Weit über den Abspann hinaus stellt man sich Fragen, wie es zu manchen Ereignissen kommen konnte und wie man in manchen Situationen selbst gehandelt hätte. Vor allem aber lässt einem eine Überlegung keine Ruhe mehr: Was hat es mit den Waldbewohnern auf sich? Ihr brutales Handeln entstammt einer Zeit, in der Zivilisation ein Fremdwort war, was logisch ist, wenn man bedenkt, dass diese Hinterwäldler fast wie Urzeitmenschen wohnen. Auf jeden Fall bleiben sie mysteriös und jagen einem mehr Furcht ein als in jedem Backwood-Slasher der Neuzeit.
Nach einer dringend nötigen Verdauungspause des eben Gesehenen kann man versuchen, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Drehbuch- und Romanautor James Dickey will meiner Meinung nach die Arroganz und den Übermut der zivilisierten Stadtbevölkerung anprangern, die bei den vier Hauptcharakteren in vollem Ausmaß zur Geltung kommt. Zur Belustigung wollen sie einmal zurück zu den Wurzeln, doch sie sind ohne ihre technischen Errungenschaften der „wilden“ Natur hilflos ausgeliefert, sobald diese zurückschlägt, in diesem Fall eben in Form von verrückten Hinterwäldlern. Zudem wird leise Kritik an der Verstümmelung der Natur durch Staudämme, Stauseen etc. laut. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Andeutung im Vorspann, als Lewis zur geplanten Überflutung der Gegend im Off sagt: „Das ist eine Vergewaltigung der Natur.“ Und die Natur in Gestalt zweier „Rednecks“ wird später eben dasselbe mit der zivilisierten Welt in Form von Bobby tun, eine Umkehrung der Verhältnisse.
Manchmal wünsche ich mir, ich hätte „Deliverance“ seinerzeit im Kino gesehen, einzig und allein mit der Vorkenntnis, dass es um vier Jungs geht, die eine Floßfahrt durch ein unbeflecktes Stückchen Natur machen wollen. So geht alleine durch filmhistorisches Wissen ein Teil der Überraschung flöten, aber trotzdem: Dieser Film, einer der atmosphärisch dichtesten überhaupt, besitzt eine solch zeitlose Wucht (er hätte tatsächlich erst vor einigen Wochen im Kino laufen können), dass er auch diejenigen umhauen wird, die sich gewappnet fühlen. Garantiert!