Review

Ach, was waren das für Zeiten! Es war meine erste Klassenfahrt, ich war noch keine zehn, hatte noch keine Sorgen - und war noch übermenschlich schreckhaft. So sind mir nicht nur die unheimliche Nachtwanderung, sondern auch noch immer die abendlichen Sitzungen in guter Erinnerung, in denen meine Klassenlehrerin uns einen kleinen Gruselroman vorlas, der wohl die meisten von uns Schülern begeisterte: “Hexen” von Roald Dahl.

So waren wir auch Feuer und Flamme, als ein Sender nur wenig später Nicolas Roegs Verfilmung des Buchs ausspuckte. Klar, den mußten wir unbedingt sehen! Unsere Klassenlehrerin gab grünes Licht, als sie kurzerhand doch noch einen Rückzieher machte - aus dem einfachen Grund, weil er zu grausig sei, wie sie nach voriger Begutachtung feststellte. Wir murrten, doch ihre Bedenken waren im Nachhinein durchaus berechtigt.

Obwohl “Hexen hexen” ab 6 freigegeben ist, sind einige Szenen aus der Sicht eines Kindes in der Tat wirklich harter Tobak - wie auch ich feststellen mußte, als ich ihn mir wider besseres Wissen trotzdem im Fernsehen anschaute. Als wäre die Story nicht schon unheimlich genug: Luke (Jason Fisher), ein neunjähriger Junge, zieht nach dem Unfalltod seiner Eltern mit Oma (Mai Zetterling) nach England und wohnt während des Aufenthalts in einem Hotel zufällig einem Kongreß bei, bei dem sich alle Frauen als kinderhassende Hexen entpuppen. Dort stellt ihnen die große Oberhexe (Anjelica Houston) ihre neueste Erfindung vor: Einen Zaubertrank, womit alle Kinder auf der Welt in Mäuse verwandelt werden sollen.

Nun, die grobe Handlung kannte ich schon aus dem Buch, aber sie auch filmisch in Bild und Ton serviert zu bekommen, war eine ganz andere Erfahrung. So bot es sich für mich insbesondere in der ersten Hälfte an, die Hände vors Gesicht zu halten, wenn in den Erzählungen der Großmutter ein Mädchen von einer Hexe entführt und lebenslang in ein Bild gesperrt wird, aus dem leise Hilferufe hallen, wenn es in den Augen der Hexen mysteriös violett schimmert, wenn eine diabolisch vor sich hin grinsende Hexe Luke eine Schlange anbietet. Das saß! In Sachen Grusel werden besagte Szenen allerdings noch durch einen Moment getoppt, und das ist die Demaskierung der Hexen. Vor allem der Anblick, der sich unter der Maske von Anjelica Huston preisgibt, ging dermaßen auf mein zartes Gemüt, daß ich kurz vor einem Abbruch des Film”vergnügens” stand. Glücklicherweise konnten sich meine Nerven mit der Zeit etwas beruhigen.

Bei all dem Schrecken, der “Hexen hexen” auf den ersten Blick bei einem Kind unter Umständen verursacht, kann man glatt übersehen, wie sehr die Umsetzung eigentlich gelungen ist. Roeg verstand es perfekt, phantastische und gruselige Elemente mit viel Witz und Spannung zu einem ausgesprochen unterhaltsamen Ganzen für die ganze Familie zu verbinden, das sich gegen die literarische Vorlage absolut behaupten kann.

Roeg beschränkte sich darauf, den Film bei humanen anderthalb Stunden zu belassen, womit er eventuell aufkommenden Leerlauf innerhalb des Plots von vornherein kategorisch ausschloß - und so wird der Zuschauer auch gleich in die Handlung hineingerissen, wo sich die Oma für die Exposition verantwortlich zeigt, die in den Anfangsminuten uns und ihrem an Hexenmythologie interessierten Enkel alles Wesentliche berichtet, was noch im weiteren Verlauf aufgegriffen und für den guten Luke - der die Schauermärchen erst für Mumpitz hält, bis er selbst einer Hexe begegnen wird - noch wichtig werden wird. Schon Dahl gab der Mythologie der Besenreiter völlig neue Attribute mit, Skriptautor Allan Scott behielt diese bei: Hier haben die Hexen nämlich Glatzen, anstatt Fingern Krallen und keine Zehen, weshalb sie fortwährend Perücken, Handschuhe und auch Masken tragen müssen. Außerdem kann man sie von “normalen” Menschen gut unterscheiden, wenn man ihnen tief in die Augen blickt und ein violettes Leuchten darin erkennt. - Warum nicht? Ist doch mal was Originelles.

Nach dem eher düsteren Auftakt (die Eltern kommen bei einem Autounfall um, Luke begegnet einer Hexe) wechseln Oma und Enkel den Schauplatz - für eine gute Stunde wird sich das komplette Geschehen einzig und allein im Hotel abspielen - und mit ihnen auch der Ton ins Heitere. Nebenfiguren, die bisher vermißt wurden, werden eingeführt: der dicke Bruno, dessen sofort unsympathische Eltern, der Hotelchef, von niemand anderem als Rowan Atkinson verkörpert, den die Zuschauer zwei Jahre später nur noch unter dem Namen “Mr. Bean” kennen sollten und der hier die meisten seiner Szenen an sich reißt - und nicht zuletzt gut und gerne 60 Frauen, angeführt von Anjelica Huston, die auf einem Kongreß offiziell über Maßnahmen gegen Kindesmißhandlung beraten wollen.

Nachdem der Zuschauer durch kleine Hinweise bereits unzweifelhaft darauf aufmerksam gemacht worden ist, daß diese Frauen nicht die sind, für die sie sich ausgeben, erlebt der Film sein erstes großes Highlight, und das ist der Kongreß - eine Sequenz, die auf eine volle Viertelstunde aufgebläht wird und dabei aufgrund vieler netter Extras rund um den langen Monolog der Oberhexe doch nie langweilig wird (Hexenverbrennung, Lukes verzweifelter Versuch, nicht entdeckt zu werden, Brunos Verwandlung in eine Maus). Nach einem etwas unmotiviert eingeworfenen Zwischenspiel (Luke muß einen Kinderwagen vor dem Sturz in die Tiefe bewahren - das stand nicht bei Dahl und hat auch hier keine größere Funktion) wird schließlich auch dem unerwünschten Zuhörer der Zaubertrank gezwungenermaßen verabreicht - und just haben wir anstatt eines Kindes eine Maus als neue Hauptfigur.

Im zweiten Part schlägt mehr oder weniger die Stunde der Effektmenschen, gilt es doch, die im übrigen sprechen könnende Luke-Maus (und manchmal auch zwei, wenn Bruno mit von der Partie ist) in Szene zu setzen, die ab sofort darum bemüht ist, in den Besitz des Zaubertranks zu kommen - und sie machen ihre Sache gut. In den Nahaufnahmen sind die drolligen Mäuse zwar als künstliche Exemplare identifizierbar (gerade im modernen Computer-Zeitalter), aber die unendliche Mühe, die man sich auch bei den Kameraeinstellungen gegeben hat (man wechselt flexibel zwischen allen möglichen Perspektiven hin und her), ist förmlich spürbar. Dadurch entsteht mitunter ein solides Spannungsmaß (wenn auch durch die Machart des Films der Ausgang grundsätzlich vorhersehbar ist), immer wieder unterbrochen durch lustige Zwischenspiele.

Als Sahnehäubchen gibt es ein denkwürdiges Abendessen im Hotelspeisesaal mit anschließender Mäuseplage, die für höchstes Chaos und Verwüstung sorgt. Zum Schluß muß Roeg noch den Gepflogenheiten des Kinderfilms (denn trotz allen Gruselns handelt es sich bei “Hexen hexen” letzten Endes noch immer um einen Kinderfilm) Rechnung tragen und im Gegensatz zu der in der Hinsicht konsequenteren Vorlage ein waschechtes familientaugliches Happy-End herbeizaubern - der einzige Wehrmutstropfen, der sich jedoch leicht verschmerzen läßt, gibt es doch ansonsten nur Erfreuliches zu berichten.

Auch bei der Schauspielerwahl für die Hauptrollen hatte Roeg ein goldenes Händchen. Für Regisseure ist es immer schwer, kindliche Hauptdarsteller zu finden, die das erwachsene Publikum nicht schon nach wenigen Minuten an die Wand klatschen will. Jason Fisher ist ein angenehmes Exemplar: Er nervt nicht und er kann einigermaßen schauspielern. Mai Zetterling mimt eine liebe Bilderbuch-Großmutter zum Knuddeln, während Anjelica Huston als ihre Gegenspielerin Mut zur Häßlichkeit beweist und sichtlich Spaß an ihrer Rolle hat.

Die Masken sind mehr als passabel (die von Huston natürlich im Besonderen schön abscheulich), die Effekte, wie oben angeschnitten, angemessen und nicht zu aufdringlich eingesetzt, die Musik von Stanley Myers sehr variabel von schwungvoll-quietschvergnügt (Vorspann/Ende) bis hin zu düster (in den Spannungsszenen).

Seit dem ersten Ansehen bin ich mittlerweile noch einmal zehn Jahre älter geworden und ich liebe den Film immer noch. Eine wunderschöne kunterbunte Genre-Mischung aus Fantasy, Grusel, Spannung, Witz und etwas Action voller Einfallsreichtum, der Dahls Roman weitestgehend gerecht wird. Das abgenutzte Video von ’94 steht hier immer noch irgendwo rum und hergeben werde ich es auf keinen Fall. Der ideale Familienfilm! Dennoch sollten Eltern gut achtgeben, daß, wenn “Hexen hexen” einmal wieder (wie in der Vergangenheit mitunter) im Nachmittagsprogramm laufen sollte, ihre Kinder den Film das erste Mal nicht alleine sehen. Dies kann gegebenenfalls zu Risiken und Nebenwirkungen führen. 9/10.

PS: Was ich allerdings immer noch nicht verstehe: Wie paßt die überdimensionale Nase der Oberhexe unter die Maske? :-)

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