Was passiert eigentlich jenseits des Fokus einer Kamera, die gerade eine Szene eines Teen-Movies einfängt? Irgendwo dort hinten in den Rängen, vielleicht auch an der Seite. Da steht ein seltsamer Lulatsch mit Weißen-Afro und Fliegerbrille. Er steht dort wie ein Zombie, die Mimik ist vollkommen unangespannt, die Augen bleiben ziellos. Seine Körperstellung kennzeichnet ihn endgültig als Nerd, und als die Kamera den hübschen Menschen der High-School folgt und diese Menschen ihre Wege kurzzeitig mit unserem Nerd kreuzen, um ihn gründlich zu verarschen, steht er kurz im Mittelpunkt des Interesses. Der Ruhm dauert jedoch nur wenige Sekunden; schon bald ist die Kamera wieder bei den hübschen Menschen, und der Nerd bleibt im Schatten zurück, um später vielleicht kurzzeitig nochmals für einen schlechten Witz eine fragwürdige Rückkehr zu feiern.
Nicht so bei Regisseur Jared Hess. Der taucht nämlich voll ein in die Zone der Nerds, der kuriosen Gestalten, um eine skurrile Freakshow abzuliefern und ihr auf den Grund zu gehen. Und das gefiel den Leuten so gut, dass der Film in den USA über 40 Millionen US-Dollar einspielte, und das im eher ertraglosen Spätsommer. Hauptdarsteller Jon Heder bekam 1.000 Dollar Gage - ein Zeugnis der geringen Erwartungen im Vorfeld, die um Meilen übertroffen wurden.
Unter anderem vertrieben von Fox Searchlight und MTV Films, muss hieraus eigentlich die Intention des Filmes interpretiert werden, denn die Story selbst gibt eigentlich nicht allzu viel her; der Plot ist vielmehr eine Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten, die erst durch die Art der Darstellung an Substanz gewinnen - das Drehbuch muss in seiner Reinform recht abstrakt zu lesen gewesen sein. Jedoch handelt es sich bei “Napoleon Dynamite” um einen Independentfilm, der periphere, die klassische Highschool-Komödie betreffende Gegenstände unter das Scheinwerferlicht nimmt. Die Folge ist ein absurder, individueller und höchst kreativer Output, der vor Unverbrauchtheit nur so strotzt und selbst alteingesessenen Kinogängern noch das unangenehme Gefühl nehmen kann, denselben Brei zum x-ten Mal in neuer Verpackung zu betrachten. So etwas wie das hier hat man in der Form wohl noch selten gesehen. Daran erfreuen sich dann alle, die auf der ewigen Suche nach neuem Material sind.
Andere wiederum werden sich am eigenwilligen Stil des Films die Zähne ausbeißen, weil er mit aller Konsequenz und mit allen Mitteln verfolgt wird. Dieser Stil ist alles andere als massenkompatibel, was das Einspiel nur noch bemerkenswerter macht.
Jon Heder gibt den Antihelden der Geschichte, die eigentliche Hauptfigur: Napoleon Dynamite. Benannt nach dem Pseudonym von Elvis Costello für sein “Blood and Chocolate”-Album, mutet der Name zu Beginn an wie pure Ironie, denn das Gemüt des dürren Außenseiters ist alles, nur nicht revolutionär oder dynamisch. Der Mittzwanziger Heder, seinerzeit noch unbekannt und anno 2006 diesem Film zum Dank dick im Filmgeschäft, schafft hier, was nur wenigen Schauspielern vergönnt ist: Durch lakonisches Verhalten, pure Agonie und Passivität in Reinform gibt er eine Klasseleistung ab und wird zum Durchstarter. Es scheint fast, als habe er dafür nichts weiter tun müssen, und wenn man liest, dass er in den Drehpausen mitgeholfen hat, die im Film vorkommenden Freundschaftsbänder anzufertigen, kann man wahrlich nicht von Method Acting ausgehen. Aber es ist eine Freude, dieser Interpretation eines Vollnoobs zuzusehen. So entstehen Kultfiguren: Man nehme einen Korpus, stelle ihn hin und lasse ihn einfach gewähren, ganz zwanglos und ohne Auflagen. Und so wandelt Heder als Napoleon Dynamite die komplette Laufzeit über wie paralysiert durch die Landschaft, lässt die Gliedmaßen hängen, versteckt seine Augen, das primäre Instrument der Darstellung von Emotionen, tief in den Augenhöhlen und lässt seine vollen, schlabbrigen Lippen einfach hängen. Will man wissen, was in diesem Kerl vorgeht, muss man auf seine Worte achten, die Körpersprache verrät ebenso wenig über sein Gefühlsleben wie die Mimik. Bis man weiß, wie sehr Napoleon seinen Onkel Rico (Jon Gries) hasst, vergeht exakt so viel Zeit, wie er braucht, um ihm gegenüber eine Äußerung zu tätigen. Solange schaut man in das nichtssagende Gesicht und kann nur rätseln, wie er als nächstes reagieren wird. Minimalismus in Reinform. Sie zeigt viel von Napoleons Charakter: Die Meinungen anderer Leute sind ihm ziemlich egal, und so ist ihm auch seine äußere Erscheinung schnuppe. Das macht ihn irgendwo zum Helden, aber nur, wenn man das Geschehen aus seiner Warte betrachtet - von außen ist er der klassische Loser.
Einen tollen Job, um diese Figur zu charakterisieren, machen vor allem Kamera und Score. John Swiharts musikalische Untermalung ist ein Understatement für dieses freakige Paralleluniversum, das man hier zu sehen bekommt. Sehr stranges Flöten- und Orgelgedudel klimpert da auf den Zuschauer ein und verbildlicht sozusagen die Zwitschervögel und den Schuhmacher aus dem Wunderland, der eigentlich nur noch ins Bild einkopiert werden müsste, damit er vollends anwesend wäre. Die Kamera gibt dann wahrhaftig Einblick in das Seelenleben der Figur und kompensiert damit die nicht vorhandenen Gesichtsausdrücke. Bei der Vorführung der Tanzchoreografie vor seiner Schulklasse erkennen wir, dass Napoleon Spaß daran hat, zu tanzen... aber nicht etwa durch seine Mimik, sondern durch eine raffinierte Kameraeinstellung, der sich Napoleon mit einem speziellen Move entgegenstreckt, und nur durch diese Einstellung sehen wir, wie er diese Choreografie genießt - als einziger Junge neben vier oder fünf Mädchen, ausgelacht von seinen männlichen Klassenkollegen. Das ist ihm egal.
Aus diesem Zusammenspiel heraus ergibt sich auch der viel gelobte schräge Humor. Die Freude des Napoleon an seinen eigenen Tanzeinlagen regt klar zum Schmunzeln an, ebenso wie seine zahlreichen anderen Eigenarten. Die Dialoge, auch herrlich ins Deutsche transportiert und von einer guten deutschen Synchronstimme getragen, komplettieren diesen Eindruck. Sätze wie “Willst du mit mir spielen?” oder “Ist die Trisha zu Hause?” hören sich derart infantil an, dass man kaum anders kann, als diesen Kerl zu bemitleiden. Auch der Versuch, die vom Bruder im Internet ersteigerte Zeitmaschine auszuprobieren, bezeugt die grenzenlose Naivität des Napoleon in diesen Dingen; wiederum mit Hilfe der tollen Kamera wird anhand eines Close Ups gezeigt, wie Napoleon ganz behutsam noch die Diamanten in die Röhre steckt, damit die Zeitmaschine auch funktioniert.
Allerdings legt Jon Heder seine Figur nicht gänzlich als Volltrottel an; in gewissen Dingen zeigt er Intelligenz, Feingefühl und gar Würde, was natürlich für die Auflösung der Geschichte auch von Belang ist. So ist in diesem Kerl gewissermaßen immer wieder ein Drang zu sehen, doch “normal” zu sein, auch wenn ihm das offenkundig zunächst mal gelinde gesagt am Arsch vorbeigeht. Die Unzufriedenheit bleibt subtil, aber sie ist da, und hier zeigt sich die Verbindungslinie zwischen ihm und den anderen Figuren im Universum von Napoleon Dynamite.
Der Clou ist aber, dass diese anderen Figuren ebensowenig das sind, was man unter einem vollkommenen Menschen verstehen würde. Zu diesem Zweck findet die Handlung auch nicht etwa in der Gegenwart statt, sondern entsprechend des entliehenen Titels in der Periode, die aus Sicht des modischen Geschmacks heute als grausigste Zeit überhaupt gehandelt wird: In den Achtzigern. Dabei sind es nicht per se die Achtziger, in denen der Film stattfindet. Immerhin gibt es Internet und Napoleon tanzt unter anderem zu Jamiroquais “Canned Heat”, das erst Ende der Neunziger veröffentlicht wurde. Dennoch deutet ansonsten alles auf diese Epoche hin: Kleidung, Setting und etwaige epochenspezifische Bezüge wie die witzige “A-Team”-Zusammenbau-Sequenz. Damit wird dem Zuschauer eine Zeit vorgesetzt, über die er sich heute gerne lustig macht, was Geschmacksfragen betrifft. Hierdurch wiederum wirken auch diejenigen, die eigentlich cool wirken sollten, alles andere als cool - der Draufgänger mit dem weißen Hemd würde anno 2004, zur Zeit der Produktion von “Napoleon Dynamite”, ebenso zum Nerd werden wie in diesem Film Napoleon selbst. Deswegen haben wir es hier auch nicht mit einem herkömmlichen High School-Film zu tun, sondern vielmehr mit einer Satire auf einen solchen. Diese erlaubt es, dass man sich von den Schemata des Teeniefilms distanziert, wodurch es überhaupt erst möglich wird, die Nerds in den Mittelpunkt zu stellen. Die Frage, die sich dem Zuschauer jetzt stellt, lautet wie folgt: Ist es überhaupt erstrebenswert, so zu werden wie die beliebten Leute auf der High School? Sind die nicht in Wirklichkeit genauso freaky wie Napoleon selbst? Genauso zombiehaft? Sind sie nicht gar noch zombieähnlicher, weil sie sich in Massen bewegen?
Man könnte nun glauben, “Napoleon Dynamite” sei die psychologische Auseinandersetzung mit einer Figur, und zwar mit der titelgebenden Figur. Dem ist aber nicht so; es gibt mit Sicherheit noch ein knappes Dutzend weiterer schriller Figuren, die auf ihre Weise mindestens genauso abgedreht sind wie Napoleon selbst und ihrerseits auch nicht unbedingt zu den Lieblingen der Gesellschaft gehören. In dieser Funktion stehen vor allem noch Elfren Ramirez als Pedro Sanchez, Napoleons schnauzbärtiger Freund mit dem angeblich coolen Fahrrad und zudem Anwärter auf den Schulsprecherposten (eine Storyline übrigens, die ganz deutlich High School-Filme der Achtziger persifliert); Jon Gries als schmarotzerhafter, schmieriger, toupeetragender und für Brustimplantate werbender Onkel Rico; Aaron Ruell als Napoleons Bruder, ein verklemmter, schmächtiger, schüchterner und biederer Winzling, der sein Leben vor dem Internet verbringt; Tina Majorino als Deb, eine unverstandene, kleine, traurige und nachdenkliche Persönlichkeit. All diese und noch weitaus mehr Charaktere werden mit einem ausgesprochen tiefen Persönlichkeitsunterbau ausgestattet.
Das hat seinen Grund, denn nur von ihnen und ihrer Präsentation lebt die ansonsten nur wenig aussagende Geschichte. Jared Hess’ Film ist durch und durch Charakteranalyse, er lebt von ihrer Skurrilität und tut dies recht gut, denn der Wunsch nach mehr Storytiefe kommt zu keinem Zeitpunkt auf. Dazu bleiben die Figuren und das von ihnen geschaffene Szenario einfach zu faszinierend und vor allem der herrlich dezente Humor zu treffend. “Napoleon Dynamite” ist feinstes Peripheriekino, er nimmt sich dessen an, was Big Budget-Filme nicht mit der Pinzette anpacken würden und erschafft damit endlich mal wieder etwas, das von Improvisation zu leben scheint. Hat man als Zuschauer eine Empfangsantenne für diese Art von Comedy, wird man auf kürzeste Distanz unter Garantie in diese Freakshow gezogen und kann sich ihr kaum noch entziehen.