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Im ersten Bild fährt die Kamera von der linken Seite langsam auf eine kunstvoll geschnitzte Kanone zu und als das explodierende Feuer eine Kanonenkugel aus der liebevollen Nachstellung eines Drachenmauls auf die Reise in die türkischen Reihen schickt, hat der Terry-Gilliam-Stil bereits voll durchgeschlagen.

Karl Friedrich Hieronymus Freiherr von Münchhausen war im 18. Jahrhundert eine real existierende Person, ein adliger Deutscher, geboren 1720, gestorben 1797. Der Baron, der in der russischen Armee gegen die Türken kämpfte und auf dessen Erfahrung die sagenumwobenen Geschichten lose basieren, ist mitnichten Gegenstand von Terry Gilliams erneuter Hommage an die Phantasie und den grenzenlosen Geist des Menschen. Aus der historischen Figur hat sich alsbald der Lügenbaron von Münchhausen entwickelt. Der Mann, der auf einer Kanonenkugel ritt, der zum Mond flog und von einem Seemonster verschlungen wurde, jener tollkühne Mann ist es, der den britischen Regisseur fasziniert und dessen Reinkarnation er selbst möglicherweise sein könnte, nimmt man seine stets expressionistischen Werke zum direkten Vergleich heran. Gilliam und Münchhausen sind vermutlich so etwas wie Brüder im Geiste - insofern verwundert es nicht, dass “Die Abenteuer des Baron Münchhausen” ein Purzelbäume schlagendes Fest aus Effekten und Kulissen ist, dessen unermüdlicher Einfallsreichtum sich durch die am Set stattfindende Realität und deren Grenzen ganz sicher nicht zäumen lässt. Immerhin wird hier ein alter Narr zweieinhalb Jahrhunderte nach seiner Existenz von seiner eigenen Wiedergeburt portraitiert.

Bezeichnenderweise ähnelt die äußere Erscheinung des zurechtgeschminkten John Neville, der den Baron spielt, weniger der historischen Person als vielmehr der Karikatur, die der französische Maler Gustave Doré einst im 19. Jahrhundert von Münchhausen angefertigt hat. Ein neckisch gezupfter Schnäuzer und eine riesengroße Hakennase, so präsentiert sich die Hauptfigur in dem unglaublichen Lügengebilde, das sich da Film nennt. Im Rahmen der Theatererzählung wird die falsche Nase selbstredend abgenommen, mit Verlaub.

Angeblich als dritter Teil einer Trilogie angelegt (“Time Bandits” - die Kindheit; “Brazil” - das Erwachsensein; “Die Abenteuer des Baron Münchhausen” - das Alter), zieht Gilliam befreit von sämtlichen Zwängen alle Register seines exzentrischen Naturells und inszeniert ein desorientierendes, beinahe psychedelisches Wechselspiel zwischen Fiktion und Realität. Aufwendige, aber deutlich sichtbar provisorische Kulissen werden - geradezu verschwenderisch - nur so durchgeschleust, dass man gar nicht dazu kommt, ihre Qualität zu hinterfragen; minutiös abgefertigt, lassen riesige Seemonster, die Oberfläche des (Halb-)Mondes, ein Diener, der schneller ist als eine Pistolenkugel oder der personifizierte Tod als wehendes Skelett mit Flügeln nur Staunen zurück, auch wenn mit der Stop-Taste im Anschlag schnell aufgeklärt ist, dass hier nur Illusion am Werk ist. Aber die Unverschämtheit der Geschichtenerzähler, über die Fragilität ihres Gerüstes Bescheid zu wissen und es dem vom Bilderrausch gebannten Zuschauer nur mit einem schelmischen Grinsen zu quittieren, gehört zum Spiel dazu - mit dem Effekt, dass diese Männer, Gilliam und Münchhausen, vielleicht eine Wahrheit kennen, die hinter dem “Wirklichkeit, wandle dich”-Spielchen steckt.

Auf den Punkt gebracht, die Dimensionen des Erfindungsreichtums sind hier greifbar, und zwar so sehr, dass jedes noch nicht von Computereffekten verseuchte Kind sich zweifellos im Märchenland fühlen muss und diese Weltreise von Geschichte neben den vielen von Ray Harryhausen unterstützten Abenteuern zu den prägendesten nostalgischen Erinnerungen ausentwickelt werden könnte - wenn man sich darauf einlässt. Ist man dann in der Gilliam’schen Trilogie im “Brazil”-Alter angelangt, gefangen in einem einschränkenden gesellschaftlichen Netz aus “Muss”, “Soll” und “Darf”, so wird man darüber staunen, wie spielerisch und selbstverständlich einige der größten Lügen von allen aufgetischt werden und wie viel Spaß es macht, sie zu glauben - auch heute noch. Ein Eilbote läuft aus einem orientalischen Schloss in einer Wüste im Eilschritt nach Wien und wieder zurück, legt dabei noch ein Nickerchen ein - und braucht weniger als eine Stunde dafür. Ein Mann ist so stark, dass er die ganze Schatzkammer eines reichen Fürsten auf seinen Schultern tragen kann. Und der Zwerg, der verfügt über ein gigantisches Lungenvolumen, fürwahr! Das ist zweifellos die schönere Realität - eine schaffende, nicht bloß eine dahintreibende, die ohnegleichen existiert.

Wann immer Gilliam eine These fehlt, die seinem Werk übergeordnet ist, oder ein Ziel, auf das es hinauszuarbeiten gilt, läuft er traditionell allerdings Gefahr, sich in elliptische Schleusen zu manövrieren. Dann läuft das Treiben antriebslos vor sich hin und weiß nurmehr mit simpler Kumulation der Ereignisse die Spielfilm-Laufzeit zu erreichen. Besonders deutlich beispielsweise in “Fear and Loathing in Las Vegas” zu erkennen, krankt auch “Die Abenteuer des Baron Münchhausen” etwas an diesem Manko, das eine typische Begleiterscheinung für den Briten ist. Es dauert zwar bis zu diesem Punkt relativ lange und insbesondere die halbphilosophischen Dialoge mit dem kauzigen Mondmann (Robin Williams), dessen Kopf vom Körper abgetrennt ist, wirkt dem entgegen. Irgendwann ist man aber trotz der Schlag auf Schlag erfolgenden Ereignisketten und Kulissenwechsel - oder gerade wegen ihnen - auf dem besten Wege, abzuwinken. Eine 18-jährige Uma Thurman als nackte Venus in der Muschel nur als einer von unzähligen bildlichen Reizen, die trotz ihrer ungemeinen Schauwerte alsbald ermüden. So ist man dann doch froh, wenn sich die Geschichte schließlich merklich ihrem Ende zuneigt, auch wenn man rückblickend keine der Erfahrungen mehr hergeben möchte, die man bis zu diesem Punkt gesammelt hat.

Irrelevant, dass der Ritt auf der Kanonenkugel letztlich wohl eher auf der Realität basiert, dass Münchhausen im Krieg gegen die Türken solche Kugeln durch die Luft fliegen sah und währenddessen nicht tatsächlich auf ihnen sass. Aller Wahrscheinlichkeit kann man sich auch nicht am eigenen Schopfe mitsamt Pferd aus dem Meer fischen und ich bin mir nicht ganz sicher, aber wenn man sich vom Mond abseilen will, das Seil bis zur Erde knapp wird und man einfach ein Stück von oben abschneidet, bleibt das Seil dann tatsächlich in der Luft hängen? Und zwar genau so lange, bis der Kletterer merkt, dass hier irgendwas nicht stimmt? Aber ja doch! Wenn Terry Gilliam das behauptet, dann ist es auch die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

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