Es ist immer schwer für einen Film, wenn der Zuschauer die literarische Vorlage bereits gelesen hat. In einem Buch ist viel mehr Platz für die Beschreibung der Charaktere, der zwischenmenschlichen Aspekte, der vom Autor gewünschten Atmosphäre, usw. Dies gilt ganz besonders dann, wenn das Buch als solches bereits sehr gut geschrieben ist und dies ist bei den purpurnen Flüssen ganz klar der Fall. Der Roman von Jean-Christophe Grange fesselt von der ersten Seite an. Die rund 400 Seiten verschlingt man am liebsten am Stück, die Hauptpersonen sind einem anschließend so nah wie gute Bekannte, die fiktive Atmosphäre läßt einen auch nach dem Schliessen des Buches noch erschaudern. Einziger Schwachpunkt des Buches: ein ganz und gar abstruses Ende auf den letzten Seiten, dass ein bisschen den Eindruck hinterläßt, als wollte der Autor das Buch noch schnell vor dem Abendbrot beenden. Etwas schade, an dem Gesamteindruck ändert dies aber nicht viel.
Die Hauptfrage, die sich mir stellte, war, wie der Inhalt des Buches mit all seinen Aspekten in einen Film umgesetzt werden kann. Mir schien dies etwas unmöglich, solange man nicht unbedingt einen Vier-Stunden Schinken produzieren wollte. Die Auflösung ergab sich gleich in den ersten Minuten. Zwar ist der Film an den Kern der Geschichte angelehnt, die Einzelhandlungen sind aber stark von dem Buch gelöst. Damit bleiben zwar viele Facetten der Charaktere dem Zuschauer verschlossen, die Fülle von 400 Seiten lassen sich aber nun mal nicht in knapp zwei Stunden unterbringen.
Doch worum geht es eigentlich: Die erste Hälfte des Films enthält zwei Handlungsstränge, die abwechselnd vorangetrieben werden. In beiden Strängen gibt es eine Hauptperson und in beiden Strängen erhält der Zuschauer einen guten Einblick in den jeweiligen Charakter.
Story #1: Inspektor Niémans, verkörpert von einem exzellenten Jean Reno, versucht einen bestialischen Mord in den Alpen aufzuklären. Es wird schnell klar, dass dies kein Mord im üblichen Sinn ist, sofern man hier überhaupt von Sinn reden darf, sondern dass der Mörder etwas aussagen will. So führt auch eine Spur zur nächsten und die Leiche bleibt nicht alleine. Jean Reno spielt den wortkargen, rauhen, zur Gewalt tendierenden Großstadt-Inspektor, der nur für den Fall in den Alpen abkommandiert wurde, einfach grandios. Man hat das Gefühl, dass er sein Leben lang nichts anderes gemacht hätte. Zur Atmosphäre trägt der Ort der Handlung bei. Eine Elite-Universität in der Abgeschiedenheit eines Alpendorfes, der Handlung angepaßte Kamerafahrten über die Naturgegebenheiten, die Hilfslosigkeit der ortsansässigen Polizei, die mit derartigen Fällen nicht die geringste Erfahrungen haben - dies alles führt dazu, dass man sich von dem Film sehr schnell gefangen nehmen läßt.
Story #2: Ein Kommissar in der Tiefe Frankreichs, dargestellt von Vincent Cassel - ebenfalls eine exzellente Wahl. Südländischer Natur, locker, sehr aktiv, alles andere als wortkarg - einzig in dem Hang zur Gewalt gleicht er dem Inspektor, der in den Alpen ermittelt. Aber zunächst wissen die beiden voneinander nichts. Der Kommissar verfolgt eine eher weniger erschreckende Tat, die für ihn in der Einöde Südfrankreichs aber trotzdem eine willkommene Abwechslung ist. Eine Grabschändung in Verbindung mit gestohlenen Akten aus einer Schule führen den Kommissar auf eine Spur, die schließlich zur Mitte des Film in den Alpen landet, wo sich die beiden Beamten dann schließlich treffen.
Die beiden prinzipiell grundverschiedenen Charaktere kommen der Auflösung stückweise näher, irgendwann stellt sich beim Zuschauer mehr und mehr eine Ahnung des Motivs für die Morde ein. Angesichts der nur begrenzten Anzahl der Darsteller entsteht beim Zuschauer ein Verdacht, der aber nur Teil der Lösung ist. Die Lösung selbst ist leider wie im Buch etwas an den Haaren herbeigezogen und leider im Hinblick auf ein künstliches "Hochspannungsende", dass dem Charakter des Films eigentlich gar nicht entspricht, sehr actionreich gestaltet. Auch der Ort des Finales ist nicht der erwartete.
Trotzdem: eine sehr dichte Atmosphäre, interessante und gut dargestellte Hauptcharaktere, eine interessante Story - das abstruse Ende einmal beiseite gelassen - was will man mehr? Wer Filme wie "Sieben" nicht nur wegen des religiösen Hintergrundes mag, wird an den purpurnen Flüssen ebenfalls Gefallen finden. Ganz so dicht und düster wie bei "Sieben", meiner persönlichen Thriller-Referenz, ist der Film zwar nicht, der Vergleich ist aber allemal legitim.
Die deutsche DVD bietet eine sehr gute Bildqualität, eine sehr gute Tonqualität und zahlreiches Bonusmaterial. Dem Inhaltsverzeichnis nach zu urteilen auch sehr interessantes Material, angeschaut habe ich es mir noch nicht - zur Qualität kann ich daher nichts sagen. Der franzöische Originalton ist ebenfalls auf der DVD enthalten.
Fazit: Eine Perle europäischer Filmkunst. Für Thriller-Freude führt eigentlich kein Weg dran vorbei, trotz des etwas enttäuschenden Endes. Dieses Manko teilt sich der Film auch mit dem Buch. Die DVD hat jedenfalls ihren Stammplatz in meinem Archiv erobert.