„Nach 5 im Urwald“ ist Hans-Christian Schmids erster Kinofilm. Genauer: Sein erster Film der in die Kinos gelangte nachdem er bereits ein Jahr zuvor mit dem Mutter-Tochter-Sekten-Drama „Himmel und Hölle“ sein Spielfilmdebüt fürs Fernsehen inszenierte. Auch „Nach 5 im Urwald“ war als Fernsehfilm produziert worden, kam bei den Hofer Filmtagen jedoch so ausgezeichnet an das er kurzerhand im Kino ausgewertet wurde. Mit ansehnlichem Erfolg. Die Produktionsbedingungen – der Film wurde im Rahmen der „Debüt im Dritten“-Reihe vom SWR produziert – sind die größte Geißel des Films, der dem Vergleich zu Schmids folgenden Kinofilmen – „Crazy“ ausgenommen – kaum standhalten kann.
Den ökonomischen Kompromiss, den Schmid hier eingehen musste hat er seinerzeit sicherlich nicht über die Maßen bedauert – heute würde er einen Film wie diesen aber sicherlich nicht mehr drehen. Die gesamte Erzählweise, Geschichte und auch die Figurenkonstellation unterliegt den ungeschriebenen Gesetzen, die ein Fernsehfilm erfüllen muss: Konfliktpotenzial ohne Unbequemlichkeiten, dramatische und tragische Momente die nie Gefahr laufen, wirklich deprimierend für das entspannungssüchtige Publikum zu werden weil sie stets durch komische Einlagen aufgelöst werden, Generationenkonflikte, ein Schuss Romantik und natürlich die unvermeidliche, halbtotale Ästhetik die die Möglichkeiten der Kamera bestimmt außen vor lässt und einen „Kino-Look“ nicht zulässt. Einen Film wie „Nach 5 im Urwald“ würde Hans-Christian Schmid, der sich nach diesem Film in seinen Drehbüchern zunehmend auf die präzise Beschreibung einzelner Figuren verlagerte (die hier noch nicht in diesem Maße ausgeprägt ist), heute nicht mehr drehen weil er inzwischen weitgehend von den kommerziellen Auflagen befreit ist, die ein junger Regisseur akzeptieren muss, will er nicht wie so viele andere Nachwuchsfilmer nach zwei von den Förderanstalten finanzierten Arthouse-Filmen von der Bildfläche verschwinden.
Trotzdem ist der Regisseur seinen Prioritäten auch hier soweit wie in diesem suboptimalen Rahmen nur möglich, treu geblieben – auch wenn im Vergleich zu seinen späteren Filmen gerade der Erstling „Himmel und Hölle“ als weit „typischerer“ Schmid-Film erscheint. Wie auch sein Jugenddrama „Crazy“ und bis zu einem gewissen Grad sein letzter Film „Requiem“ ist das wirklich bemerkenswerte an „Nach 5 im Urwald“ nicht sein leiser Humor sondern seine um Authentizität bemühte Schilderung des Generationenkonflikts, der hier durch den Streit zwischen Anna (Franka Potente) und ihrem etwas spießigen Vater Wolfgang (Axel Milberg) ganz klassisch vertreten ist: Sie hat gegen seine Erlaubnis ihren Geburtstag im Wohnzimmer gefeiert, in dem es am nächsten Morgen freilich aussieht wie bei Hempels unterm Sofa, inklusive schlafender Alkoholopfer, einer vergessenen Dose Hasch und den Scherben von Vaters Lieblingsplatte auf dem Boden.
Die Geschichte, die sich letztlich versöhnlich „zuspitzt“ – mit gegenseitigem Verstehen und Akzeptanz – dreht sich im Kern um Annas Flucht aus dem Elternhaus nach München, wo sie bei einem Casting vorsingen will. Für sie wird dieser Ausflug ein Crash-Kurs im Erwachsenwerden, für ihre Eltern der zufällige Anlass, wieder zu sich selbst zu finden. Ihr wird in München all das passieren, was einem etwas unerfahrenen und blauäugigen Teenager in einer nächtlichen Großstadt so passieren kann (in einem Film), ihre Eltern werden plötzlich feststellen, das sie die Freiheit der Jugend und ihre kleinen Exzesse eigentlich schon längst vermisst haben und sich an den Alkoholresten und dem Haschisch ihrer Tochter gütlich tun.
Der Humor von „Nach 5 im Urwald“ hat bei mir als Feind des konstruierten Witzes alleine deshalb so gut funktioniert weil Schmid seine Figuren nicht plakativ als Instrumente in einer auf nackte Unterhaltung ausgelegten Komödie ausbeutet sondern weil er ihnen Respekt entgegenbringt. Eine Tugend, die man in solchen Produktionen eher selten antrifft. Überhaupt halten sich die teilweise köstlichen, komischen Momente eher elegant im Hintergrund auf und treten nur selten mit dem dramaturgischen Vorschlaghammer hervor. Ausgerechnet Annas kleiner Schwester Klara hat man die Rolle des Pausenclowns zugeteilt und so darf sie als altkluges Kind mit Hornbrille mittels ihrer skurrilen Tagebucheinträge, bei denen es das Drehbuch mit der „kindlichen Perspektive auf die Welt der Erwachsenen“ wohl etwas zu gut meint, von Zeit zu Zeit den Zuschauer bespaßen – sofern dem der inzwischen vorherrschende, leicht melancholische Ton schon zuviel des Guten sein sollte.
Schmids Film könnte also durchaus ein gelungenes und bodenständiges Jugenddrama sein, wäre die Produktion nicht so vielen Einschränkungen unterlegen. Die Laufzeit von 90 Minuten ist zu knapp, nicht selten wirken Szenen abgehackt, so als hätte man hier etwas gekürzt dass ursprünglich fester Bestandteil des Films war. Die Prämisse, ein Problem zu behandeln aber nie in allzu ausführlicher und realistischer Perspektive und der zur Kompensierung eingearbeitete Humor verhindern, dass der Film an manchen Stellen tiefer bohrt – wozu seine Handlung im Grunde geradezu herausfordert. Überhaupt meint man permanent den Zeigefinger des SWR-Redakteurs im Hintergrund zu spüren und seine Worte „Nur nicht zu ernst, ja? Nicht so traurig!“ zu hören. Das ist natürlich ärgerlich, kann aber die großen Momente des Films aus der Welt räumen in denen Schmids Talent für Schauspielführung und Dialoge zur Geltung kommt. Insbesondere die Schwierigkeit, geduldig und vor allem ausführlich miteinander zu kommunizieren und das damit einhergehende Unverständnis im zwischenmenschlichen Umgang durchzieht den gesamten Film und alle Figuren. Mal tritt es eher amüsant zutage wie etwa zwischen Anna und dem schüchternen Simon, der sich in sie verguckt hat, es nicht übers Herz bringt, sich ihr anzuvertrauen und lieber durch Feuer und Wasser geht, um in ihrer Nähe zu sein, sonst aber eher irritierend wie etwa in den unangenehmen sexuellen Avancen, die der schmierige Produktionsleiter Nick und kurz darauf sein offenbar sympathischerer Mitbewohner Anna machen. Und natürlich zwischen Anna und ihren Eltern. Der Konflikt zwischen beiden Seiten wird am Ende grandios – wenngleich natürlich etwas plakativ - aufgelöst. „Mama und Papa sind mit fremden Leuten da drin! Gottseidank bist du wieder da, die haben letzte Nacht Sachen gemacht, dagegen war deine Party richtig zivilisiert!“ empfängt Klara ihre große Schwester bei ihrer Heimkehr.
Mit „Nach 5 im Urwald“ hätte Hans-Christian Schmid einen modernen Klassiker des deutschen Kinos schaffen können, wäre der Film nicht unter der Fuchtel des Fernsehens entstanden. So wirkt das Werk phasenweise zu gehemmt – in der Thematisierung jugendlicher und kommunikativer Probleme, dann wieder zu entfesselt – in seinen komischen Szenen. Das Fernseh-Feeling lässt sich zu keinem Zeitpunkt abschütteln und wenn man sich Schmids vorletzten Kinofilm „Lichter“ ins Gedächtnis zurückruft so beginnt man schnell zu rätseln: „Was wäre aus dem Film geworden wenn…“. Diese Überlegungen sind in diesem Falle aber nur wenig hilfreich. „Nach 5 im Urwald“ ist kein Unglück sondern ein echter Glücksfall unter den deutschen Fernsehfilmen und ein respektables Beispiel für einen intelligenten Unterhaltungsfilm, der seine Figuren nicht an die Produzenten verkauft, sondern dem Publikum anbietet und größtenteils – leider nicht vollkommen – darum bemüht ist, die effektvolle, aber würdelose Blamage des Einzelnen für den groben komischen Effekt, vermeidet. Kino ist der Film noch nicht, doch es sei Schmid unter diesen Vorraussetzungen verziehen unter denen er doch das wahrscheinlich bestmögliche „Produkt“ abgeliefert hat. Trotz der wohl auch persönlichen Komponente die sich im Film leider eher durch seine überraschende Bodenständigkeit bemerkbar macht – „Das ist zu großen Teilen meine Geschichte, vieles davon habe ich selbst erlebt.“ (Schmid über den Film) – ist „Nach 5 im Urwald kein bedeutender Film im bislang leider mageren Oeuvre Hans-Christian Schmids. Seine wahre Größte sollte er erst in dem beachtlichen nachfolgenden (Kino-)Film „23 – Nichts ist so, wie es scheint“ zwei Jahre später zeigen und damit auch eine reifere Linie einschlagen, die er bis heute immer weiter ausgebaut hat.