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SIE bzw. SHE ist die berühmt-berüchtigte Titelfigur von Sir Henry Rider Haggards Bestseller, die unsterbliche Überfrau Ayesha, deren Macht in ihren Untergang umschlägt, als sie aus ihrem Reich in die normale Welt zurückkehren will; und "Sie" war der deutsche Titel von Stephen Kings Bestseller "Misery" (1987). Während der bei King vor allem auf die Misere des Protagonisten hinweisende Titel von der Romanfigur Misery Chastain des fiktiven Bestseller-Autors Paul Sheldon herrührt, da verweist der Titel der deutschen Übersetzung auf Paul Sheldons psychotische Gegenspielerin Annie Wilkes, die King mehrfach durch Paul Sheldons Augen als groteske Entsprechung der Haggardschen Überfrau – deren Größe King unter anderem in Körpermasse umwandelt – beschreibt, so wie sie auch mehrfach als bee queen auftritt (die sich ihrerseits auch in diversen anderen Kings befindet).

"Misery" war 1987 in der Tat eine originelle Hommage und teilweise geistreiche Verdrehung von Haggards berühmten Kolportage-Klassiker, aber "Misery" war [Achtung: Spoiler!] vor allem auch eine erstaunlich dreiste Variation von Joan Aikens bösartiger Kurzgeschichte "Marmelade Wine" (1969): Bei Aiken trifft ein Journalist und Autor eher zufällig auf einen ehemaligen Chirurgen, der nach seinem Nervenzusammenbruch in einem abgelegenen Landhäuschen lebt und seinem Gast einen mit Betäubungsmitteln angereicherten Likör andreht, um ihm dann – zum künftigen Zeitvertreib und auch im Glauben an den Wahrheitsgehalt der Prahlerei seines Gastes, dass er zukünftige Ereignisse voraussehen könne – die Füße zu amputieren und ihn für immer bei sich gefangen zu halten. Aus der schwarzhumorig pointierten horror story Aikens – die zwar die geistreichere und bessere, allerdings auch weniger bekannte literarische Größe und Phantastik-Kennerin ist (was das King-Fandom in ein wenig vorteilhaftes Licht rückt, weshalb man es durchaus nachvollziehen kann, dass King hier nicht bloß seine Drogenprobleme, sondern auch den beängstigenden Fanatismus seiner Fans, die ihm seine Fantasy-Ausflüge übel nahmen, verarbeitet haben will!) –, welche einst in ihrer Geschichtensammlung "The Windscreen Weepers and Other Tales of Horror, Suspense & Fantasy" (1969) erschien,[1] hat King dann einmal mehr einen detailreich ausgeschmückten, reißerischen Roman von stattlicher Länge (knapp 400/500 Seiten) erarbeitet, in dem er das Thema des Gefangenseins aufgreift, das er schon zuvor in "Cujo" (1981) und später in "Gerald's Game" (1992) behandelte. Paul Sheldon sieht am Ende seiner Misere dann auch aus wie der Graf von Monte Christo...

In Kings Roman gerät also Paul Sheldon, Autor der recht erfolgreichen, von ihm aber wenig geschätzten Misery-Buchreihe nach einem Autounfall in die Hände der ehemaligen Krankenschwester Annie, die den Verunglückten aus seinem Wagen zu sich nach Hause verschleppt, wo sich ihn pflegt und unter Drogen setzt, während sie das einzige Exemplar seines neuesten Romans liest. Dessen Gossensprache und den um Realismus bemühten Ansatz schätzt sie jedoch kaum – und als sie dann auch noch den letzten seiner Misery-Bände liest und vom Tod ihrer Lieblingsromanheldin erfährt, beginnt ein tödliches Kammerspiel zwischen dem Autor, der mit gebrochenen Beinen und starken Schmerzen ans Bett gefesselt ist, und der psychotischen Ex-Krankenschwester, die in ihrer Vergangenheit willentlich den Tod etlicher Patienten verschuldet hat. Paul muss erst seinen neuen Roman verbrennen und soll dann eine glaubwürdige Auferstehung von Misery verfassen – eine Auftragsarbeit, an deren Ende immer deutlicher Pauls Tötung und Annies Selbsttötung zu warten scheint.
Das überschaubare Figurenarsenal des Films, die einfache, geradlinige Handlung, die jedoch von allerlei Erinnerungen an die Vergangenheit des Protagonisten und Kapiteln aus der aufgezwungenen Auftragsarbeit aufgelockert wird, lassen "Misery" zur hervorragenden Romanvorlage für eine Verfilmung werden. Ganz besonders, da es Kings Spannungsdramaturgie gehörig in sich hat; und auch, weil die Drastik und Schonungslosigkeit des Romans mit kaum einem anderen Werk der Populärliteratur zu vergleichen ist: da wird dem Protagonisten im Mittelteil des Romans als Reaktion auf dessen unerlaubtes Verlassen seines Krankenzimmers in detaillierter Beschreibung der linke Fuß mit einer Axt abgeschlagen, woraufhin der blutende Beinstumpf mit einem Propangasbrenner verödet wird. Nicht allein die blutrünstige Schilderung des Schmerzes, sondern auch das Wissen um die Unumkehrbarkeit solch einer Verstümmelung verleiht dem Grauen in Kings Roman große Effektivität: Paul Sheldon muss im Lauf der Handlung stets damit rechnen, für jeden Fluchtversuch, für jede Auflehnung mit dem Verlust von Körperteilen bestraft zu werden. In einer kaum weniger grausigen Episode trennt Annie nach seiner Klage über die Mängel seiner Schreibmaschine einen Daumen des Autors mit einem elektrischen Sägemesser ab, um den Daumen später als Kerzenersatz in einer Geburtstagstorte zu präsentieren, von der Paul kosten muss, wenn er nicht als Alternative den eigenen Daumen verspeisen will. Dieser doch recht geschmacklos anmutende Einfall ist trotz seiner haarsträubenden Effekthascherei nicht bloß verschmerzbar, sondern sogar zu begrüßen, da es sich um eine erkennbare – und wenige Seiten später von King konkret benannte – Verbeugung vor Robert Aldrichs Psychothriller "What Ever Happened to Baby Jane?" (1962) handelt, in welchem eine herrlich verbiesterte Bette Davis als unrühmlich gealterter Kinderstar der eigenen, erfolgreicheren, aber nunmehr im Rollstuhl sitzenden und inzwischen gefangengehaltenen Schwester getötete Haustiere und Ratten auftischt. Aus diesem filmischen Einfluss macht King keinerlei Hehl.

Überraschenderweise verzichtete der von Co-Produzent Rob Reiner letztlich selbst in Szene gesetzte Film auf die überschäumende Intertextualität der Romanvorlage: nicht nur Haggard bleibt außen vor, nicht nur Arthur Conan Doyles Entledigung und Wiederbelebung seiner von Fans heißgeliebten Holmes-Figur, nicht nur der Graf von Monte Christo, sondern auch die Anleihen bei Aldrich spielen keinerlei Rolle mehr. Die Entschlackung dieser Verfilmung lässt von den Zitaten und erklärenden Parallelen nichts mehr übrig; bloß die dramaturgisch bedeutende Diskussion über mangelnde Fairness von Serial-Cliffhangern wurde übernommen (aber nicht visualisiert). Auch die Handlungsebene des erzwungenen Misery-Romans beschränkt sich im Film auf wenige Rezitationen und Nacherzählungen durch Annie: Reiner und sein Drehbuchautor William Goldman haben darauf verzichtet, ihrerseits den linearen Handlungsstrang durch Episoden aus den Misery-Schmonzetten aufzulockern und auch die teilweise ganz hervorragend für eine filmische Umsetzung geeigneten Erinnerungen Paul Sheldons wurden nicht übernommen. Der Film gibt sich ganz straight und vorwärtstreibend; um Sheldons Bucherfolge überhaupt noch außerhalb des Rahmens seiner Zwangsarbeit einzubinden, lässt der Film die neu erfundene Figur des Sheriffs über Annies Zitate aus Paul Sheldons literarischem Schaffen auf die Spur der Psychopathin kommen.
Das alles kommt der reinen, auf konventionelle 100 Minuten eingedampften Spannungsdramaturgie sicherlich zugute, aber die selbstreflexive Verortung in der Kulturgeschichte bleibt in der Filmversion von "Misery" ebenso auf der Strecke wie auch die clevere psychologische Schilderung der Abhängigkeit zwischen Opfer und Täterin oder die beinahe kunsttheoretische Beschreibung des Zusammenspiels zwischen dem Unabhängigkeitsstreben des Künstlers, der Erwartung seiner Rezipienten und dem ökonomischen Zwang.

Überraschen mag auch der Entschluss, die Radikalität der Vorlage abzuschwächen. Goldman – der schon bei "Marathon Man" (1976) die Schmerztoleranz des Publikums mit der letztlich um einige Minuten entschärften Zahnarztbohrer-Folter auszureizen trachtete – hatte bekanntermaßen mit der drastischen Amputationsszene geliebäugelt: 1½ Jahrzehnte vor der torture porn-Welle, in deren Umfeld Protagonisten nicht mehr bloß mit Fesseln, sondern gleich mit dem Durchtrennen der Achilles-Sehne ("Hostel" (2005)) oder der Wirbelsäule ("Wolf Creek" (2006)) am Entkommen gehindert werden konnten, hätte diese Szene mit einer seltenen Kompromisslosigkeit punkten sollen, die zudem durch das Voranschreiten der Splatterästhetik in den 70er und 80er Jahren durchaus möglich gewesen wäre - wobei Reiner aller Wahrscheinlichkeit nach eine allzu detaillierte & effekthascherische Inszenierung der Amputation ohnehin gemieden hätte. In dieser ursprünglich geplanten Form hätte "Misery" die Reihe harter, aber seriöser, hochwertig produzierter Horrorfilme und Thriller fortsetzen können, die es bis Mitte/Ende der 80er Jahre durchaus noch gab – z.B. "The Thing" (1982), "Videodrome" (1983), "Day of the Dead" (1985), "The Fly" (1986), "Hellraiser" (1987) oder "Hellbound: Hellraiser II" (1988). Doch die Bedenken unzähliger ursprünglich eingeplanter Darsteller(innen), Regisseure und sonstiger Mitarbeiter(innen) führte letztlich dazu, dass Reiner sich für die vergleichsweise mildere, unblutige und mit weniger Langzeitfolgen daherkommende Form des Brechens der Fußknöchel mit dem Vorschlaghammer entschied.[2] Da sich zwischen 1985 und Beginn der 90er Jahre, zwischen "The Re-Animator" (1985) und "Braindead" (1991) die Splatterfilmästhetik verstärkt in reine Splatterfilme des Direct to video-Bereichs verlagerte – mit denen Reiner so gar nichts zu tun haben wollte – und als fun splatter bizarrer und grotesker Horrorkomödien Verwendung fand, traf diese entschärfte Form des Filmprojekts den Ton ernster Horrorthriller der beginnenden 90er Jahre – die von "The Silence of the Lambs" (1991) bis "Se7en" (1995) allzu explizite Bilder mieden – sicherlich eher. Die Abweichung des Films von seiner Vorlage in diesem Punkt ist durchaus bezeichnend für den Rückgang der Splatterästhetik zwischen den 80er und 90er Jahren im Mainstreamfilm.

Herausgekommen ist auf diese Weise ein erstaunlich verdaulicher straightforward-Thriller, der die Situation des Helden in Weitwinkelaufnahmen und low angle shots übersetzt,[3] mit einer aufreibenden Parallelmontage anreichert und die Weite der Landschaft in einigen Außenaufnahmen als Kontrast einsetzt. Handwerklich perfekt, wenngleich konventionell umgesetzt und – gerade von Kathy Bates! – grandios gespielt, ist "Misery" somit ein effektiver Thriller, der mit seinem Verzicht auf so ziemlich alle Nebenaspekte des Romans allerdings weder dessen Intensität, noch dessen Gehalt erreicht. Damit ist er nach Kubricks "Shining" (1980) und Cronenbergs "Dead Zone" (1983) bis heute zumindest eine der besten King-Verfilmungen und ein durchaus fesselnder Genrebeitrag, allerdings auch nicht der Genre-Markstein, welcher er hätte werden können.
8/10


1.) Auch Jennifer Chambers Lynchs "Boxing Helena" (1993) erinnerte vage an Aikens Kurzgeschichte, mag aber auch von King oder dem Film "The Amputee" (1973) ihres Vaters beeinflusst worden sein.
2.) Auch der blutige Mord an einem jungen Polizisten, der nach diversen Stichverletzungen mehrfach mit einem fahrbaren Rasenmäher überrollt wird – und der schon in der Vorlage unglaubwürdig, geschmacklos und in seiner Bemühtheit eher lächerlich wirkte –, wurde daher durch die Erschießung des Sheriffs mit der Schrotflinte ersetzt.
3.) Dabei handelt es sich um die letzte Leistung des erprobten Kameramanns Barry Sonnenfelds, der hier auch als
second unit director tätig war und anschließend vollends ins Regiefach wechselte.

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