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Der englische Film "Tiger Bay" ist vor allem ein Kammerspiel über moralische Vorstellungen, daß sich auf drei Protagonisten konzentriert. Regisseur J.Lee Thompson, der wenig später in Hollywood unter anderem "Cape Fear" drehte, setzt bei seinem Spiel mit den Emotionen des Zuschauers bewußt auf drei Stereotypen, denen er dank der großartigen schauspielerischen Leistungen zusätzliche Facetten abgewinnen kann.

Trotz der in Hinsicht auf die Beurteilung eines Verbrechens stark geänderten Moralvorstellungen, kann "Tiger Bay" auch heute noch seine emotionale Wirkung entfalten und damit seine Spannung bis zur letzten Sekunde hochhalten.

Der polnische Seemann Kurczinski verläßt im Hafen der walisischen Stadt Cardiff sein Schiff. Fröhlich winkt er mit seinem gerade erhaltenen Bündel Pfundnoten und freut sich auf seine Freundin Anya, die in Cardiff eine kleine Wohnung hat. Er ist voller Träume und will sie fragen, ob sie ihn heiratet. Auf seinem Weg zu der Wohnung kommt er an einer Schar spielender Kinder vorbei, unter der sich die 12-jährige Gillie befindet. Gillie wird gerade von den anderen Kindern vertrieben, weil sie keine Spielzeugpistole besitzt. Außerdem schmeißt ein Junge ihre soeben eingekauften Würste in den Dreck. Kurczinski hebt eine davon auf und macht einen Witz dazu...

Schon in diesen ersten Sequenzen entwickelt der Film sämtliche wichtigen dramatischen Faktoren, aus der im Weiteren der sich zuspitzende Konflikt entsteht. Horst Buchholz spielte hier als Kurczinski seine erste Hauptrolle in einem ausländischen Film und kann als Idealbesetzung für die Rolle des leicht naiven, emotional aufbrausenden jungen Mannes angesehen werden. Wie später in Billy Wilders "Eins,Zwei,Drei" ist es gerade die Mischung aus fehlender Intellektualität, unstetem Temperament und einer jungenhaften Ausstrahlung, die Buchholz regelrecht ins Gesicht geschrieben ist und die es erst ermöglicht, für ihn, trotz seines brutalen Mordes an seiner Freundin, Sympathie zu ergreifen.

Er erfährt, daß seine Freundin aus der Wohnung ausgezogen ist und sucht sie in einem anderen Wohnblock auf. Dabei ist die Kulisse im Hafengebiet von Cardiff von wesentlicher Bedeutung für den Charakter des Films. Thompson schafft hier eine triste und heruntergekommene Atmosphäre, die bis in die Treppenhäuser und Wohnungen Armut und Einsamkeit ausstrahlt. Schmutzig-graue Innenwände, abblätternder Putz und Ruinen prägen die Optik, die durch die eindringlichen Schwarz-Weiß Bilder noch unterstützt wird.

Die folgende Szene zwischen der untreuen Anya und ihrem Freund entwickelt vor diesem Hintergrund ihre Wirkung. Ihr Wunsch, aus dieser Armut herauszubrechen und sei es mit einem wohlhabenden Geliebten, ist zwar verständlich, aber gleichzeitig wirkt der moderne Fernseher im Hintergrund wie ein Fremdkörper in ihrer Wohnung. Sicherlich lagen die Sympathien der Zuschauer eindeutig bei dem betrogenen Seemann, auch weil Anya ihn anschreit und einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt. Aber der Film vermeidet eine Verurteilung ihrer Figur und läßt ihr nach den tödlichen Schüssen einen kurzen Moment des Erstaunens, einen letzten Seufzer, der spüren läßt, daß auch ihr Handeln von Einsamkeit und Verzweiflung bestimmt war.

Genausowenig verharmlost "Tiger Bay" die Schüsse auf Anya und Kusczinskis Verhalten. Buchholz gelingt es, in diesem Moment eine gefährliche Wut auszustrahlen, die bis zum Schluß keine Sicherheit bezüglich seines Handelns aufkommen läßt. Das ist auch der Moment, in dem die eigentliche Beziehung des Films beginnt - die von Kurczinski zu dem Mädchen Gillie. Die neugierige und sich ständig allein beschäftigende Gillie hatte den Mord beobachtet, in dem sie durch den Briefkastenschlitz in der Wohnungstür zusah. Sie verrät sich ,kann aber mit der Tatwaffe fliehen und der Mörder ist so gezwungen ,die kleine Zeugin zu verfolgen.

Gillie wird von Hayley Mills gespielt, die zurecht bei der Berlinale für diese Rolle den "Silbernen Bären" als beste Schauspielerin gewann. Die langsam entstehende Beziehung zwischen dem 12-jährigen vernachlässigten Mädchen und Kurczinski ist in ihrer filmischen Konzeption eigentlich zum Scheitern verurteilt. Ich möchte behaupten, daß heute kein Filmemacher mehr diese Konstellation wagen würde, ohne sie wenigstens ironisch oder zugespitzt anzulegen ,wie etwas in "Leon" von Luc Besson. Hier entwickelt sich alles sehr ernsthaft und es ist dem in seiner Qualität kaum zu schildernden authentischen Spiel seiner Protagonisten zu verdanken, daß der schmale Grat der Wahrhaftigkeit und des Unpathetischen immer eingehalten wird.

Zusätzlich auf den Punkt gebracht wird diese Beziehung durch die dritte Hauptperson, den von John Mills verkörperten Inspektor der britischen Polizei. Seine ruhige, sehr genaue und in gewissen Momenten aggressive Art ist das genaue Gegenstück zu der verträumten Gillie und dem naiven jungen Mann. Sehr detailliert beobachtet der Film die Polizeiarbeit, die schrittweise zur richtigen Spur führt, doch um an ihr Ziel zu gelangen, muß die Polizei einen Keil treiben zwischen zwei Menschen, die zueinander gefunden haben...

Aus heutiger Sicht hat eine im Affekt begangene Tötung nicht mehr diese verurteilende Wirkung, doch 1959 war schon eine starke Manipulation des Publikums von Nöten, um es in diese Richtung zu bringen. Thompson arbeitet ganz deutlich mit Klischees, ohne aber dabei den Fehler zu begehen, zu plakativ oder eindimensional zu werden. Zwar steht der Inspektor gegenüber dem emotional verbundenen Paar auf verlorenem Posten bezüglich der Sympathie des Publikums, aber er selbst ist keineswegs ein unangenehmer Zeitgenosse, sondern wirkt immer väterlich souverän.

Letztendlich ist "Tiger Bay" ein frühes Beispiel für das sogenannte "Stockholm-Syndrom", bei dem sich die Geisel in ihren Entführer verliebt, aber Thompson entwickelt die Story nicht nur psychologisch nachvollziehbar, sondern in einer Art, daß man als Zuschauer die Position der kleinen Gillie einnimmt.

Fazit : "Tiger Bay" zeigt sämtliche herausragenden Eigenschaften des englischen Films. Spannend und geradlinig erzählt, dabei psychologisch komplex und für das Jahr 1959 von moralischem Mut geprägt. Im Gegensatz zur Hollywood-Optik sind die Schwarz-Weiß Bilder hier karg und von authentischer Wirkung.

In der Anlage der Charaktere arbeitet Regisseur Thompson bewußt mit klischeehaften Typen, die aber durch die herausragenden schauspielerischen Leistungen facettenreich und ohne Polarisierungen ein nachvollziehbares Drama erzählen. Unterhaltender Film, der auch heute, trotz der veränderten Moralvorstellungen, immer noch modern wirkt (8/10).

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