Eingefahrene Sehgewohnheiten helfen bei "Die Stadt der verlorenen Kinder" nicht weiter. Wer auf schnörkellose Optiken schwört, wird gnadenlos durchgeschüttelt. Wer schon mit zwei Neben-Plots überfordert ist oder einfach nur das Hirn ausschalten möchte, wird entnervt abschalten. Und wer letztendlich immer nur bestimmte Genre-Schubladen öffnet, sollte lieber gleich die Hände von der Fernbedienung lassen.
Zumindest der Main-Plot ist schnell erzählt. Krank ist ein künstlich erschaffener Mensch, der einen entscheidenden Makel hat: Er ist unfähig Emotionen zu zeigen, sein traumloses Dasein lässt ihn unbarmherzig schnell altern. Hoffnung birgt eine Anti-Aging-Kur der speziellen Sorte. Eine dubiose Untergrundorganisation, die sich die "Zyklopen" nennt, entführt unschuldige Kinder, die dann von Krank und seiner Familie - einer zwergwüchsigen Frau, fünf identischen Klon-Brüdern mit Narkolepsie und einem Gehirn im Aquarium - um ihre Träume beraubt werden. Damit der gute, alte Krank endlich mal gepflegt schlummern kann.
Wahrscheinlich wäre sein hinterfotziger Plan auch aufgegangen, wenn er nicht dummerweise den kleinen Bruder einer muskelbepackten Jahrmarktsattraktion (ein gut aufgelegter "Hellboy" Ron Pearlman) gekidnapped hätte. Denn der macht sich zusammen mit einer neunjährigen Taschendiebin auf zu Kranks Bohrinsel.
Wer jetzt schon genug hat, sollte sich den Streifen schenken. Es soll aber auch solche geben, die sich erst von derart bizarren Geschichten hinter dem Ofen hervor locken lassen. Unentschiedene können aber gerne einen Blick riskieren. Denn so abgefahren sich das Ganze auch liest, ein Querdenker muss nun auch wieder nicht sein, um der Erzählung zu folgen. Gut, Aufnahmefähigkeit sollte man schon mitbringen. Denn ein paar Nebenhandlungen gibt es schon noch. Erfirschende Ideen sind jedenfalls reichlich vorhanden. Das ist auch die große Stärke des Films: Langweile kommt zu keiner Zeit auf.
Witzig, bizarr, einfühlsam, spannend - die "Stadt der verlorenen Kinder" ist alles. Stellenweise sogar etwas brutal. Gerade soviel, dass die Fassade eines modernen Märchens nicht eingerissen wird, gleichzeitg aber zuviel, um ihn bedenkenlos den Kleinen vorführen zu können. Dafür ist der Streifen zu düster. Die Optik ist jedenfalls einen Nummer für sich, dank der hervorragenden Kulissen und Kostüme durchaus auch als gelungen zu bezeichnen. Mainstreamtauglich ist aber anders. Man nehme ein bisschen Twelve Monkeys hier, ein wenig Lemony Snicket dort, würzen das Ganze noch mit einer ordentlichen Prise Tim Burton - und verrühre alles in einem Topf. Garniert wird das Ganze dann noch mit einigen Ingredienzien aus dem hauseigenen Regiefundus - Novelle Cuisine eben. Freunde der soliden Hausmannskost können darüber nur die Nase rümpfen.
Dabei hätte dem Film ein wenig mehr Gradlinigkeit wahrscheinlich nicht geschadet. So toll die Ideen und so skurril die Figuren auch sein mögen, manch ein Handlungsstrang verläuft unaufgeklärt im Sand. Und auch der Schnitt, den Regisseur Jean-Pierre Jeunet mit "Amélie" perfektionieren wird, leidet unter Kinderkrankheiten. Vielleicht liegts auch an meiner Fassung, aber mancher Szenenwechsel wirkt doch zu überstürzt, ein paar inhaltliche Sprünge hab ich auch überbrücken mussen. Dafür ist die Kamerafahrt durch die Hafenstadt im letzten Drittel äußerst überzeugend geraten.
Fazit: "Die Stadt der verlorenen Kinder" ist eine skurril-sympathische Märchenerzählung für Erwachsene, die mit guten Einfällen, tollen Sets und einer spielfreudigen Besetzung überzeugen kann, die aber auch mit einigen Ungereimtheiten zu kämpfen hat. Kein Must-See, aber eine Empfehlung. Ein interessanter Film für Ästheten, Gute-Nacht-Geschichten-Vorleser, Franzosen-Freunde und alle anderen, die sich immer mal wieder abseits gängiger Genre-Pfade bewegen. Das übrige Publikum wird über audiovisuelles Vollegefühl klagen.
(6,5/10).