Ein weiteres Meisterwerk der genialen Regiekombination Jeunet und Caro! Schon mit „Delicatessen“ bewies das Duo Mut zur Innovation, indem sie eine bizarre Handlung in ein nicht minder verrücktes Setting einbetteten, das mit verrückten Einfällen, atmosphärischer Dichte und genial aufspielenden Darstellern einen ewigen Stein in meiner Top 5 der besten Filme aller Zeiten einnahm.
„Die Stadt der verlorenen Kinder“ kommt nicht ganz an den Vorgänger heran, toppt aber immer noch fast alles andere auch nur annähernd vergleichbare Märchen und den Mainstream/Hollywood – Schrott von heute allemal! Man könnte meinen, dass die beiden Franzosen alle tollen Ideen, die sie nicht mehr in „Delicatessen“ unterbringen konnten, zu einem weiteren, absolut genialen Märchen machten. Dabei hat das Quasi-Sequel dem Vorgänger sogar noch einen Aspekt voraus: statt sich was den Schauplatz betrifft nur auf ein Haus und ein klein wenig Drumherum zu beschränken, wurde „Die Stadt der verlorenen Kinder“ wahrlich viel versprechend in einer düsteren Hafenstadt abgedreht. Dabei bestimmen grünes Meerwasser, finstere Seitenstraßen und verkommene, rostige Industriebauten das Senario, wenn man sich nicht gerade auf der Ölplattform eines kranken Wissenschaftlers befindet, der durch eine Sekte von Cyborgs Kinder aus der besagten Stadt rauben lässt, um sie mit Alpträumen zu füttern.
Als der „kleine Bruder“ von Jahrmarkt-Kraftprotz One (genial und wie gemacht für die Rolle: Ron Perlman) gestohlen wird, macht der sich mit der Hilfe kleiner, organisierter Waisenkinder auf die Suche nach dem Dreikäsehoch und gerät dabei nicht nur an allerhand schräge Typen, sondern im Verlauf auch auf die Spur des verrückten Forschers...
Vorsicht, Eltern: was nach einem Kindermärchen für die ganze Familie klingt, gehört bestimmt nicht in jeden solcher spießigen Haushalte: das bizarre Setting und die Typen, die darin herumschwirren, sprechen den Norm-Papi (und noch weniger die passende Mami dazu) sicherlich nicht an, und so manche Szene wäre mit Sicherheit zu viel für die Kinder, die trotz alledem bestimmt viel von diesem Glanzstück französischen Kinos lernen würden. Also taugt der Streifen wie schon „Delicatessen“ mehr für Kino-Exzentriker und Junggebliebene, die einfach etwas für solche Kombinationen übrig haben. Neben Ron Perlman brilliert auch in diesem Jeunet-Vehikel einmal mehr Gesichtsakrobat und Vollzeit-Komiker Dominique Pignon in gleich einem halben Dutzend Rollen, die Sprechrolle des Gehirns sollte Kennern ebenfalls zusagen und auch sonst macht hier jeder Einzelne seine Sache mehr als gut!
Allem voran ist es jedoch einmal mehr die Vielzahl an fantasievollen Einfällen, die den Film so einzigartig macht: Schauplätze, Schnitte, Charaktere, Szenerie, Drehbuch, Musik, Kostüme, Ausstattung: alles gehalten in fantastischem Look und mit Liebe zum Detail entwickelt, dass es dem Kenner einfach nur Spaß macht, das Gesamtwerk über die Mattscheibe zu jagen. Einfach ein Film, den jeder Freund des extravaganten Stils mindestens einmal gesehen und verstanden haben sollte, und das kommt nicht von ungefähr.
Schade, dass die Experimentierzeiten für dieses Duo schon längst wieder gelaufen sind. Jeunet hatte sich ja irgendwann danach vorerst über den großen Teich gemacht und dort zunächst einmal „Alien Resurrection“ abgedreht – wieder zusammen mit Perlman und Pignon, die beide ihre Hollywood-Kollegen reichlich alt aussehen lasen – bis er sich mit „Der fabelhaften Welt der Amelié“ wieder in Europa und mit seinem ursprünglichen Stil zurückmeldete. Gott sei Dank.
Für mich ist „Die Stadt der verlorenen Kinder“ ein DVD-Musthave, einer der fantasievollsten und atmosphärischsten Filme aller Zeiten. Kann ich allen vom Standard gelangweilten Filmfreunden nur wärmstens empfehlen.