Die meisten Filme haben das Ziel den Zuschauer zu unterhalten, und viele Regisseure haben ihre ganz eigenen Methoden gefunden, wie sie dieses Ziel am effektivsten erreichen. Jean-Pierre Jeunets Methode ist ungewöhnlich und ziemlich einzigartig, er bombardiert den Zuschauer mit einer Vielzahl skurriler Figuren, virtuoser Bilder und Geschichten, welche jenseits ausgetretener Mainstream-Pfade noch zu überraschen und zu begeistern wissen. Diese Kombination hat Die fabelhafte Welt der Amelie zum Welterfolg gemacht, Delicatessen zum Kultfilm und auch Die Stadt der verlorenen Kinder reiht sich von der Machart nahtlos zwischen diese beiden Filme ein, wobei er sie qualitativ sogar noch übertrifft.
Gilt es den Film einem Genre zuzuordnen, kommt bei Betrachtung der Story eigentlich nur die Bezeichnung Märchen in Frage. In einer namenlosen Stadt schlägt sich eine Gruppe von Waisenkindern mit Einbrüchen und Diebstählen, im Auftrag der Leiterin ihres Weisenhauses, durchs Leben. Immer wieder werden einige von ihnen von den so genannten Zyklopen entführt und an eine Gruppe verrückter Wissenschaftler verkauft, die auf einer abgelegenen Bohrinsel haust und deren Anführer versucht die Träume der Kinder zu stehlen um selbst wieder ein Kind zu werden. Als es auch den kleinen Bruder von Jahrmarksattraktion One (Ron Perlmann) trifft, schließt sich dieser mit dem Weisenmädchen Miette zusammen und versucht die entführten Kinder zu befreien.
Diese Rahmenhandlung ist eigentlich recht einfach gestrickt, ganz im Gegensatz zur eigentlichen Erzählstruktur des Films. Jeunets Werk schweift gerne von den Hauptprotagonisten ab und zeigt uns Nebenhandlungen die zwar deutlich kürzer hätten ausfallen können jedoch in ihrer Gesamtheit erst die Wirkung des Streifens ausmachen. Der Zuschauer ist allerdings genötigt hier seine volle Aufmerksamkeit entgegenzubringen sonst besteht die Gefahr das man sich in dem Netz aus Figuren und Interaktionen verliert. Es wäre etwas unfair an dieser Stelle aufzuzählen, welche Ideen am kreativsten und abgedrehtesten sind oder welch ungeahnten Kameratricks (wovon es wirklich viele gibt) zu deren Umsetzung verwendet worden sind, aber der entzückte Betrachter hat beim Schauen ständig dieses Wow-Gefühl, wie kommt man nur auf solche Ideen. Die Stadt der verlorenen Kinder ist ein Film für Entdecker und Träumer, sichtlich gemacht für diese von Entdeckern und Träumern. Realismus-Fanatiker könnten das ein oder andere Detail oder gar den ganzen Film lächerlich finden, bedauerlich aber es soll vorkommen.
Obwohl es sich eindeutig um ein Märchen handelt und die meisten Hauptdarsteller Kinder sind, ist Die Stadt der verlorenen Kinder weit davon entfernt ein Kinderfilm zu sein. Viel zu bedrückend ist die Atmosphäre und viel zu brutal dafür sind einige Szenen wie die gegenseitige Ermordung der Zyklopen oder einige Momente des Finales. Der Film geht ab und an wirklich in Richtung Horror vor allem in der genialen Traumsequenz am Ende. Der Handlungsort erinnert auf dem ersten Blick sehr an Alex Proyas Dark City, allerdings nur auf den ersten Blick. Jeunets Universum ist viel verspielter, detaillierter und ungewöhnlicher. Die erzeugte Atmosphäre der urbanen Abscheulichkeit ist allerdings recht ähnlich, wobei Proyas blaue, Jeunet braune Farbfilter bevorzugt. Überhaupt gibt es hier eigentlich nur drei Farben, braun, rot und ab und an etwas grün. Die großartigen Sets werden hierdurch in ein Licht gerückt, welches hervorragend zur gesamten Steampunk-Ästhetik des Films passt. Neben den ganzen technischen Spielereien auf der Bohrinsel muss man auf Seiten der Ausstattung auch die abgedrehten aber cool aussehenden Kostüme von Designer Jean-Paul Gaultier besonders lobend erwähnen. Musikalisch wird hauptsächlich französisch klingendes geboten, zum Glück nicht ganz so exzessiv wie in Amelie, dass mag nicht unbedingt alle Geschmäcker treffen, aber das Hauptthema ist ein echter Ohrwurm.
Bei den Darstellern gibt’s nix zu meckern, Ron Perlman ist die perfekte Wahl für den geistig zurückgebliebenen One (soll jetzt keine Beleidigung sein) und macht seinen Job routiniert gut. Die Kinder kommen allesamt natürlich und glaubwürdig rüber nur Miette scheint ihren Altersgenossen etwas voraus zu sein, wird von Judith Vittet aber genial gespielt. Dominique Pinon spielt gleich sieben Rollen (eigentlich zwei den Professor und seine 6 Klone) und begeistert wieder einmal durch eine einzigartige Mischung aus Tragik und Komik. Der Rest des Casts kann gut mithalten auch wenn man dem einen oder anderen Overacting vorwerfen könnte. Dies passt jedoch zur ohnehin völlig überdrehten Inszenierung des Films.
Fazit: Die Stadt der verlorenen Kinder ist Jeunets bester Film, ein Feuerwerk an fantastischen Ideen und übersprudelnder Kreativität. Visuell einzigartig und herrlich düster, garniert mit hervorragenden Darstellern wird dem aufgeschlossenen Zuschauer ein cineastischer Leckerbissen serviert, der so einfach nicht zu verdauen ist. Sicher nicht jedermanns Fall, aber ausprobieren, ob man sich mit dem Film anfreunden kann muss man auf alle Fälle.