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Wenn die Ameisen ihre Fühler durch seine dünne Haut stechen, um zu Tausenden aus seinen Adern zu kriechen, wenn er sich in der fensterlosen Zelle bis zur totalen Verwahrlosung halluziniert, um schließlich auf einer grünen Wiese im Maßanzug aus einem Koffer zu fallen, dann kommt man, ein Voyeur dieses menschlichen Debakels, nicht umhin, als sich selbst gefangen zu wähnen, in einem surrealen, post-rationalen Spuk, der nun sicher noch zwei Stunden währt und einen auch hernach mit sinnbedeutelnden Alpträumen reiten wird. „Old Boy“ jedoch ist ein Film, der die Fallstricke so perfekt auslegt, dass der Voyeur zwangsläufig immer wieder über seine eigenen Wahrnehmungen fallen muss. Zwar werden Alpträume ganz gewiss nicht ausbleiben, denn die Konklusion bleibt in ihrer tabugenerierten Widersprüchlichkeit zwischen Happy End und dem reinsten Destillat Zynismus eine individuell, mit sich selbst zu bereinigende Gewissensfrage. Bis dahin jedoch werden diese ersten Bausteine des Puzzles – der Knast, die Ameisen, die Wiese – die Park Chan-wook mit so einem großen Abstand zum gewöhnlich Visualisierten in das erste Layout seines neuen Geniestreiches fügt, sich bereits zu einem perfekt schlüssigen Plot verdichtet haben, zu einem Plot, dessen unerhört (und ungesehen) brillante Niedertracht den Voyeur nun selbst, mit jeder weiteren Ebene des Begreifens, tatsächlich um den Verstand zu bringen droht. Das kann doch nicht sein, vernimmt man sich selbst in immer kürzeren Abständen aus den zusammengekrampften Lungen pressen. Und doch, es kann. Es ist nur Neuland. Noch nie hat wohl ein Regisseur seinem Protagonisten so böse mitgespielt.
Auf einer Polizeiwache wird Oh Dae-soo (Choi Min-sik) vorgestellt. Der volltrunkene Trottel, mit leichter Disposition zur Gewalt und einem eklatanten Hang, in die eigene Hosenbeine zu defäkieren, macht Radau. Bis ihn die Bullen endlich ziehen lassen. Herr Oh ist ein dummes Schwein, schon klar, womit er aber das Schicksal verdient hat, das sich nach jahrelanger und unerklärter Isolationshaft immer noch schmerzlicher und tabuloser gegen ihn wendet, das ist die brennende Frage, das Leitmotiv, welches den Protagonisten zurück auf fiebrige Suche treibt. Am Ziel, bei der Erkenntnis, ist Oh Dae-soo nämlich längst noch nicht angelangt, als er seiner Nemesis in die Augen sieht und ihr die Pistole an die Schläfe drückt. „Schieß, und du wirst die Ursache für dein Leid nie erfahren!“, verführt ihn der fleischgewordene Teufel zurück auf den Pfad, auf dem die dunkelsten Ahnungen, die schrecklichsten Dämonen, wieder ins Bewusstsein drängen und wahrhaftige Gestalt annehmen, bis das Inferno bittere Realität wird und als die einzige Flucht aus der Hölle nur noch der Ritt auf dem Wahnsinn bleibt.

„Old Boy“ ist der dritte Film des Koreaners Park Chan-wook, nach „Joint Security Area“ und „Sympathy for Mr. Vengeance” sein drittes Meisterwerk. Die Jury in Cannes hat „Old Boy“ mit dem Großen Preis bedacht, und das ist nun eine lange überfällige Affirmation für den Regisseur, dessen Filme den Aufschwung des südkoreanischen Kino zu weltweiter Anerkennung in den letzten Jahren ganz erheblich befördert haben. Neben dem nicht minder großartigen Kim Ki-duk, der selbst mit dem ungewöhnlich kontemplativen „Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Frühling“ begeistern konnte, zählt Park Chong-wook sicherlich zu den international profiliertesten Vertretern der südkoreanischen Filmindustrie.
Seit Ende der Neunziger Jahre hat sich das südkoreanische Kino zu einer den asiatischen Filmmarkt mitdominierenden Kraft entwickelt. Hongkong arbeitet jetzt für Korea. Die Japse fürchten die späte Vergeltung. Das Monopol Hollywoods und dessen Einspielrekorde sind Geschichte auf der Halbinsel. Nur Bollywood macht unbeirrt weiter in den gleichen Scheiß, und singt und tanzt.
Auf der Schattenseite des anhaltenden südkoreanischen Booms aber verglüht viel Talent in einem waghalsigen Rennen um die Gunst an der Kinokasse. In diesem Goldrausch, der unzählige Investoren angelockt hat, die vor wenigen Jahren noch keinen Cent auf das Kino Südkoreas gesetzt hätten, geraten die Kosten für die Produktionen und vor allem für das Marketing in ein zunehmendes Missverhältnis zu den Gewinnoptionen. Ein Wuchern im Erfolg. Weniger als 20 Prozent aller Produktionen spielen ihre Kosten wieder ein. Die äußeren Symptome für das bösartige Geschwür in diesem Trend haben sich schon vor geraumer Zeit zu zeigen begonnen: die dreiste Reproduktion der Konzepte erfolgreicher Spielfilme in aufgesetzt variierten Sujets und die bedingungslose Unterordnung aller Ressourcen unter als erfolgssicher analysierte Trends. Es gibt also weniger Geld für die Produktion und keine Leinwände für die Aufführung außergewöhnlicherer und zukunftsweisender Beiträge. Der Boom verbrennt sich selbst. Die Ernüchterung hat unter den steten Beobachtern der Entwicklungen in der südkoreanischen Filmszene längst schon eingesetzt.

Es ist nicht leicht, „Old Boy“ einen adäquaten Platz in dieser, soeben angedeuteten Entwicklung des südkoreanischen Kinos zuzuweisen. Mit seinen ungewöhnlichen, die angelernte Kognition herausfordernden Einstellungen und seiner jedwede klischeehaften Vorstellungen von Dramaturgie umwandernden Plotentwicklung zieht Park Chan-wook einen neuen, atemberaubenden (weil schwindelerregenden hohen) Grat zwischen Comic-Adaption, Thriller, Mystery, Sex-, Rache- und Resozialisierungsdrama. Als der genialste Film, der während der letzten Jahren in Südkorea produziert worden ist, steht der Film zwar deutlich wider den dort immer noch recht verkalauerten Mainstream, verwirft sich aber auch mit allen generellen Unterstellungen einer zunehmenden Verödung des südkoreanischen Kinolandschaft. Natürlich ist Park Chan-wooks „Old Boy“ ein Ausnahmewerk. Er ist es heute, wäre es vor 5 Jahren gewesen und wird es synonym als Klassiker ohne Widerruf bleiben. Und wenn es gar einer Wüste bedarf, dass solch ein Film entstehen kann, dann soll es ruhig eine Wüste sein. 10/10

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