Wie bestimmte Informationen zustande gekommen sind, die dann bis in die Gegenwart, ohne sie erneut zu hinterfragen, weiter getragen werden, lässt sich im Nachhinein oft nur schwer feststellen. Vielleicht lag es an der deutschen Synchronisation, die die Handlung einfach in das Jahr 2066 und damit um hundert Jahre in die Zukunft versetzte. Tatsächlich gibt es in "La decima vittima" (Das zehnte Opfer) weder eine Jahresangabe, noch einen Hinweis auf eine zukünftige Entwicklung, sondern nur die Zustandsbeschreibung einer Gegenwart, die futuristische Züge an sich hat.
Man könnte das als nebensächlich erachten, aber das Versetzen einer Handlung in eine so weit entfernte Zukunft, hat zur Folge, dass die Betrachter das Geschehen nur als fiktiv, und damit ohne Bezug zur Gegenwart ansehen. Zwar hatte Elio Petri für sein Drehbuch die Erzählung "La settima vittima" (Das siebte Opfer) des Science-Fiction Autors Robert Sheckley zur Grundlage genommen, und damit dessen Idee von legitimen Morden innerhalb klarer Spielregeln, zur Kanalisation von Aggressionen, aufgenommen, erweiterte diesen Gedanken aber so stark, dass Sheckley später - wiederum auf der Basis des Films - noch den Roman "Das zehnte Opfer" herausbrachte. Das lässt deutlich werden, das "La decima vittima" weniger die Verfilmung einer literarischen Vorlage ist, als das genuine Werk Elio Petris - und dieser zielte in seinen Filmen vor allem auf die Gegenwart.
Wenn es dafür noch eines Beweises gebraucht hätte, dann liefert diesen die Ausstattung und das gewählte Ambiente. Die futuristische Wirkung erzielte Petri nur mit der Verwendung des damals aktuellen Designs. Einzig die unmittelbar mit dem Spiel zusammen hängenden Computer, wurden speziell für den Film entworfen. "La decima vittima" sog sämtliche aktuellen Design-Strömungen der Zeit, Mitte der 60er Jahre, in sich auf, die den damals vorherrschenden Optimismus, und damit einen unbedingten Zukunftsglauben in solcher Konsequenz verkörperten, dass die Anmutung des Films noch aus heutiger Sicht hyper-modern wirkt. Das gilt auch für die Optik der beiden Hauptdarsteller - Ursula Andress und Marcello Mastroianni - aber die gesellschaftliche Sozialisation der 60er Jahre hinkte stark hinterher.
Shekley's Idee eines Spiels, in dem legitim gemordet werden darf, war Anfang der 50er Jahre unter dem Eindruck des zweiten Weltkriegs entstanden. So lässt Petri im Film den Mann, der die Regeln des Spiels erklärt (Jacques Herlin), sagen, dass Hitler nicht mit dem Krieg begonnen hätte, hätte er schon die Möglichkeit gehabt, derart seine Aggressionen auszuleben. Doch diese Bemerkung wirkt in Petris Film eher wie eine Reminiszens an Shekley's Original, als das sie viel mit seinem Film zu tun hätte. Denn aggressiv ist hier Niemand. Im Gegenteil wirkt schon der Beginn spielerisch, wenn sich Caroline (Ursula Andress) immer neckisch als Opfer zur Verfügung stellt, um dann den Schüssen ihres Jägers leichtfüssig auszuweichen, bevor sie ihn in einem New Yorker Masochisten-Club quasi mit ihren Brüsten niederstreckt. Damit hat sie fast ihr Ziel, eine Million Dollar zu gewinnen, erreicht, denn jetzt muss sie nur noch einmal als Jäger antreten, nachdem sie zuvor schon neun Runden, darunter fünfmal als Opfer, überstanden hatte.
Als ihr Opfer - allerdings erst in seiner siebten Runde - wurde Marcello Polletti (Marcello Mastroianni) von den Computern ausgewählt, nachdem dieser zuvor einen deutschen Reiter per Bombe umbrachte, die dieser durch zackiges Hackenzusammenschlagen selbst auslöste. Schon in dieser ironischen Tötungsart wird Marcellos eher ruhiges, keineswegs aggressives Wesen deutlich. Er hatte sich bei diesem Spiel nur angemeldet, um die Trennung von seiner aktuellen Frau bezahlen zu können. Olga (Elsa Martinelli), seine zukünftige Frau, wartet schon auf die Annullierung der Ehe.
Bei Elio Petri wandelt sich der zynisch geplante Aggressionsabbau zu einer Auseinandersetzung über die menschliche Sozialisation, speziell über das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Es ist eine veritable Fehlinterpretation, die aufkeimenden Gefühle zwischen Meredith und Marcello als unvorhergesehenen Faktor der Menschlichkeit im seelenlosen Charakter des Mord-Spiels anzusehen, denn bei Petri geht es gar nicht um den Moment des Tötens, der wie ein Nebenprodukt wirkt und keinerlei Emotionen auslöst, sondern ausschließlich um dessen Begleiterscheinungen. Wer die beginnende Beziehung zwischen Meredith und Marcello als romantisch empfindet, hat nicht begriffen, dass hier alles zu einer Inszenierung gehört, aus der sich jeder Beteiligte den möglichst größten materiellen Vorteil verspricht. So makaber die Momente wirken, wenn die Polizei nach einem Tötungsdelikt nur prüft, ob die Spielregeln auch korrekt eingehalten wurden, wirklich modern und für seine Zeit sehr weit voraus gedacht, ist der Film in den Momenten, in denen noch Werbesprüche aufgesagt werden, bevor man abdrückt, um dabei - zusätzlich zum ausgelobten Preisgeld - Gewinn einzustreichen.
"La decima vittima" leistet sich über die gesamte Laufzeit einen schnellen, spielerischen Rhythmus, der nur scheinbar satirisch ein makaberes Zukunftsszenario durchspielt. Hinter seiner unterhaltenden Fassade verbirgt sich ein zutiefst pessimistischer Blick auf eine Gegenwart, in der der kapitalistische Zukunftsglaube und die sozialen Verhältnisse immer weiter auseinander driften. In dieser Intention wird auch die Linie zu späteren Werken wie "La classe oparia va in paradiso" (Die Arbeiterklasse kommt ins Paradies) von 1971 erkennbar, in der letztlich nicht weniger absurd die Abkehr der italienischen Gesellschaft von Petris kommunistischen Idealen verdeutlicht werden. Wer die am Ende vollzogene Hochzeit der beiden Protagonisten, bei vorgehaltener Pistole, deshalb noch für ein Happy-End hält, glaubt auch daran, dass wirklich Blumen daraus hervor schießen - Elio Petris ganz spezielle Version des "Flower-Power" (9,5/10).