„…mit geschlossenen Augen an Bahngleisen entlang laufen…“ (dann doch lieber eine gepflegte Partie Poker)
Drei Jahre gingen ins Land, bevor der italienische Meisterregisseur Dario Argento („Tenebrae“) nach seinem gelungenen „Back to the Roots“-Giallo „Sleepless“ im Jahre 2004 mit „The Card Player“ sein nächstes Werk vorlegte. Erneut handelt es sich um einen Whodunit?-Thriller, wenn auch deutlich weniger gialloesk.
Eine Kriminalbeamtin (Stefania Rocca, „Der talentierte Mr. Ripley“) in Rom bekommt per E-Mail eine Einladung zu einem Online-Pokerspiel, bei dem es um Leben und Tod geht: Ein verrückter Serienkiller möchte um das Leben seiner weiblichen Geiseln spielen. Ignoriert die Polizei die Einladung oder verliert sie das Spiel, muss das Opfer sterben. Nach anfänglichem Zögern lässt sich die Polizei auf das makabre Spiel ein, stellt aber bald fest, dass sie die Hilfe eines Profis benötigt – den sie im jugendlichen Poker-As Remo (Silvio Muccino, „Ein letzter Kuss“) findet.
Der Vorspann irritiert bereits mit Elektro-Musik und modernen, schnellen Schnitten, die jedoch die Marschrichtung des Films anzeigen: Möglichst modern und technisch soll er sein. Nicht minder irritierend ist die Tatsache, dass die E-Mail, die jeder sich halbwegs bei Verstand befindende Computer-Nutzer recht schnell als Spam gelöscht hätte, sofort ernstgenommen wird und Polizistin Anna Mari holterdipolter ihrer Abteilung die Regeln und den Ablauf wie eine Spielleiterin erklärt. Dadurch kommt „The Card Player“ jedoch recht zügig in Fahrt, den warum auch immer völlig zum Clown überzeichneten Gerichtsmediziner tut der Argento-Kenner als bisher vermutlichen radikalsten Ableger seines Servus-Syndroms (vgl. „Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe“) und dem damit verbundenen grottigen Humor des Italieners ab und ist froh, dass er nicht wieder auftaucht. Explizite Bilder einer Wasserleiche, sehr gut modelliert vom Spezialeffekt-Fachmann Sergio Stivaletti, lassen erste Hoffnung auf eine gewisse Härte des Films aufkeimen. Man setzt auf den Ekelfaktor, wenn die zweite Wasserleiche dem sich ebenfalls des Falls annehmenden irischen Detective John Brennan (Liam Cunningham, „Dog Soldiers“) ins Gesicht speit. Ein wenig eklig ist allerdings auch das Klischee vom problembehafteten Bullen mit ausgeprägter Neigung zum Alkohol, der sogar zu blöd ist, aus einem Flachmann zu trinken. Auch Anna Mari trägt ihre Dämonen mit sich herum, hat sie doch ihren Vater durch Suizid nach einem missglückten Glücksspiel verloren. Die sich anbahnende Romanze zwischen beiden ist da obligatorisch.
Doch bevor man gemeinsam in die Federn hüpft, recherchiert man unter „risikobereiten Hedonisten“ und in Pokerkreisen der Halbwelt. Dieser Passus scheint jedoch lediglich integriert worden zu sein, um die Polizei möglichst schnell auf den Profi-Pokerer Remo stoßen zu lassen, der fortan zum Gegenspieler des Killers wird. Ausflüge in eine halbseidene Welt voller verschrobener Gestalten darf man davon nicht erwarten, braucht man aber auch nicht, denn dafür haben wir ja die Polizei: Diese bricht nämlich ob eines einzigen gewonnenen Pokerspiels in wilden Jubel aus und feiert anschließend eine Party (!) – Lektion 1 aus dem Handbuch für unangemessene Reaktionen. Zugegeben, diesmal ging es gleich um die Tochter des Polizeichefs, die der Killer nach einer Stippvisite in Annas Wohnung entführte; außerdem hat er diesmal die Rahmenbedingungen erschwert, denn er schickte der Polizei Computerviren, die IP-Nummern lustig vom Bildschirm purzeln lassen – soviel zum Technikverständnis Argentos. Richtige Spannung kam bisher eigentlich nur dann auf, als sich eines der Opfer während einer Pokerpartie vorübergehend befreien und die Polizei über die Webcam des Killers ihren Überlebenskampf verfolgen konnte. Die Perspektive während der perversen Pokereien bleibt übrigens stets die der Polizei-Monitore, die Verstümmelungen und Tötungen des Opfers werden nicht explizit in Szene gesetzt.
Bis hierhin agierte „The Card Player“ auf eher drögem TV-Film-Niveau, sowohl was seine Optik, als auch seinen Inhalt (von den Wasserleichen einmal abgesehen) anbelangt – als wollten sich findige Unterhaltungsprogrammmacher Jahre nach der „technischen Revolution“ durch Heimcomputer auch einmal an das Thema wagen, nachdem sie etwas von trendigen Online-Pokerpartien gehört hatten, sich damit unheimlich „hip“ geben und ein technikaffines Publikum ansprechen. So richtig scheint Argento erst durch, als Remo ein Mädchen kennenlernt und mit ihr durch die Nacht rennt. Schön ausgeleuchtete und komponierte, atmosphärische Bilder wecken Erinnerungen an die traumwandlerische Ästhetik manch guten Giallos. Endlich gewinnt „The Card Player“ deutlich an Qualität. Voll anheimelnder und dennoch morbider Atmosphäre ist auch, wie kurz vorm Finale die Samen einer bestimmten, für die Handlung nicht ganz unwichtigen Pflanze durchs Bild wehen – und dies auch dann noch tun, als einer der Protagonisten ein überraschendes, fieses Ende erleidet. Realistisch und durch Mark und Bein gehend ist der Schrei Annas, als sie eine Betäubungsspritze in den Hals bekommt. Da war es also wieder, das inszenatorische Geschick Argentos.
Leider münden diese guten Ansätze dann in einem völlig trashigen Finale, das dem oftmals befremdlichen Verhalten der Charaktere die Krone aufsetzt, den Film endgültig der Lächerlichkeit preisgibt. Wer mehr über die Hintergründe des Täters wissen will, wird auch enttäuscht, denn seine Identität wird zwar enthüllt, das Motiv jedoch ist unspektakulär und sein Charakter bleibt oberflächlich. Die Pointe mit dem Ausspruch „Sie sind schwanger“ habe ich nicht verstanden, bezweifle aber, dass mir ein genialer Handlungstwist o.ä. dadurch verborgen blieb. Sie ist der Schlusspunkt unter eine bemüht und mehr schlecht als recht konstruierte Handlung, die dem weitestgehend nüchternen, Argentos originelle Kamera und Farbästhetik bis auf wenige Ausnahmen vermissen lassenden Film widerspricht und keiner kritischen Betrachtung standhält. Selbst Claudio Simonetti hat einen schlechten Tag erwischt und nervt mit einem furchtbaren Elektro-Soundtrack. „The Card Player“ ist eine leidlich unterhaltsame, billig und undurchdacht sowie inkohärent wirkende Enttäuschung im Pseudo-Techno-Gewand, die bei Erscheinen Argentos zweitschlechtester Film nach „Das Phantom der Oper“ gewesen sein dürfte. So gehen Thriller zum Abgewöhnen.