Robert Louis Stevensons „Treasure Island“ zählt sicherlich zu den einflussreichsten Werken in der Geschichte der Literatur. Der 1883 veröffentlichte Roman prägte das Genre um Piraten und vergrabenen Schätzen nachhaltig.
Schatzkarten mit einem großen „X“ versehen, Piraten mit einem Holzbein und Papageien auf deren Schultern gehören zum Markenzeichen der zahlreichen Verfilmungen und Fernsehadaptionen.
Bereits Größen wie Charlton Heston, Christopher Lee, oder Christian Bale haben sich in Adaptionen des Romanes wiedergefunden.
Aber auch Zeichentrickfilme ließen sich von dieser Geschichte inspirieren, bietet sie doch mit Jim Hawkins als jugendlichen Protagonisten eine hervorragende Identifikationsfigur für das jüngere Publikum.
Unter diesen Zeichentrickfilmen tummeln sich sogar einige japanische Interpretationen des Stoffes, darunter eine wirklich herausragende, die sich ganz sicher zu den besten Ausarbeitungen des Romanes zählen darf.
Sicher ist die 26-teilige Anime Serie „Takarajima“ von 1978 nicht die bekannteste Verfilmung bzw Animation der Buchvorlage, doch wer die Serie damals auf RTL2 verfolgt hat, weiß was sie so großartig macht.
Verfechter literarischer Werke und Anhänger des Buches werden mich vielleicht steinigen wollen, aber ich halte diese kleine Anime Serie für die wesentlich bessere Fassung dieser weltbekannten Piratengeschichte.
Das hat einen ganz einfachen Grund, denn „Takarajima“ hat die große Stärke der Geschichte, die im Buch lediglich angedeutet wurde, intensivst herausgearbeitet, nämlich die Beziehung zwischen Jim Hawkins und dem Piraten Long John Silver.
Was den groben Handlungsverlauf angeht, hält sich sie die Serie natürlich stirkt an das Konstrukt der Romanvorlage.
Die Geschichte dürfte bekannt sein:
Der mysteriöse Seemann Billy Bones quartiert sich eines Tages in das Gasthaus „Benbow“ in Bristol ein, und vertraut dort, von Piraten nun ausgestoßen und gejagt dem jungen Jim Hawkins ein wertvolles Dokument an; die Schatzkarte!
Diese der britischen Regierung übergeben, wird sofort eine Mannschaft an Seemännern angeheuert, darunter auch der Schiffskoch John Silver.
Für Jim ist Silver der größte, doch auf hoher See entlarvt Jim die Fassade und stellt mit Entsetzen fest, dass sein großes Idol ein Pirat ist.
Auf der Schatzinsel angekommen eskaliert schließlich die Situation, und Jim samt Gefolgschaft flüchten vor den Piraten in einen alten Fort, um den Angriffen von Silvers Männern stand zu halten, denn Jim ist im Besitz der Schatzkarte...
Nicht anders geht es im Buche vor sich, und so werden Zuschauer mit literarischen Vorkenntnissen zu fast jeder Zeit in der Serie sagen können, welche Stelle aus dem Buche gerade zitiert wird.
Doch auch diese Anime Serie nimmt sich jede Menge Freiheiten, die zwar nicht alle zwingend notwendig erscheinen, den Verlauf der Geschichte aber nochmal ordentlich abrunden.
So werden Haupt- und Nebenhandlungen durch neue Charaktere ergänzt, wie zum Beispiel das kleine Leoparden Baby Benbow, das Jim durch sämtliche Episoden begleitet und ihm oft auch in Kämpfen fauchend zur Seite steht, oder die kleine Lilly, die Jim's Love Interest markiert.
Außerdem gibt es noch weitere kleine Änderungen und Ergänzungen, die das Fortlaufen der Handlung etwas abbremsen, wie zum Beispiel der etwas besorgte Mr. Tralewny, welcher Jim zunächst nicht mitfahren lassen möchte (ganz im Gegensatz zum Tralewney aus dem Buche), und sich somit eine ganze Episode zunächst mit einem ewigen Hin und Her zwischen dem bettelnden Jim und dem skeptischen Squire beschäftigt, ehe es nun endlich aufs Schiff geht.
Mögen solche Erweiterungen der Buchvorlage zu Beginn noch arg gedehnt wirken, werden später detailliert ausgearbeitete Szenen, die im Buche lediglich nur erwähnt wurden zur unverzichtbar essentiellen Charakterprägung.
Sobald nämlich Long John Silver ab Episode 6 auftaucht werden die Abweichungen von der Romanvorlage zur großen Stärke der Serie.
John Silver erhält hier von Regisseur Osamu Dezaki weitaus mehr Profil, als von seinem eigentlichen Schöpfer Stevenson.
Stevenson's L.J. Silver wird mit einigen seiner herausragendsten Eigenschaften nur in wenigen Zeilen beschrieben, genauso wie die sich entwickelnde Beziehung zwischen Jim und ihm nur am Rande erwähnt wird.
Osamu's Silver dagegen entpuppt sich bis zu seinem Piraten-Outing stets als Retter des Tages, denn er stellt sich dem von Jim gefürchteten Black Dog und rettet ihn auch vor Sklavenhändlern.
Obendrein vereitelt er die Rebellion des verrückt gewordenen Arrow, und nimmt es sogar mit einem ganzen Piratenschiff auf.
Alles ganz zur Begeisterung von Jim, der Silver aufgrund solcher Heldentaten für den aller Größten hält.
Hinzu kommt noch, dass den eigentlichen Schiffskoch eine sehr wohlwollende Aura umgibt.
Die markante und doch sehr gönnerhafte Stimme (im Deutschen gesprochen von Michael Grimm) und sein kameradschaftlicher, jovialer Umgang mit all seinen Mitgefährten (ganz besonders Jim) füllen jede Szene mit einer angenehmen Wärme und machen Silver zum absoluten Sympathiebolzen.
Und so funktioniert der große, dramatische Plottwist um Silvers wahre Person um einiges besser, als im Buch.
Unzählige Unterhaltungen mit philosophischen Hintergedanken zwischen Jim und Silver wurden abgehalten, in vielen Extremsituationen glänzte der Schiffskoch durch Mut und Selbstlosigkeit.
Nicht nur Jim sah zu Silver auf, sondern auch der Zuschauer, daher ist das Mitgefühl für Jim umso größer, als Silver sein wahres Gesicht zeigt.
Und trotzdem behält er im weiteren Verlauf der Geschichte eine gewisse Restsympathie bei sich, da er im Gegensatz zu Stevenson's Silver nicht droht die gesamte Schiffsbelegschaft umbringen zu lassen, und Jim immer wieder auf gute alte Zeiten anspricht.
Der originale John Silver aus dem Roman wird tatsächlich erst gegen Ende der Geschichte, als er selbst von seinen eigenen Leuten hintergangen wird richtig sympathisch, da er nun mehr Szenen mit Jim teilt und somit im Laufe der restlichen Zeit seine bisherigen Drohungen und Unehrlichkeiten auch vergessen lässt.
Doch damit kommt die Romanfigur trotzdem bei Weitem nicht an den vielschichtigeren Charakter aus dem Anime ran.
All die vielen, nicht im Roman enthaltenen Extra Szenen schaffen einen unglaublichen Persönlichkeitsaufbau Silvers, und die Krönung all dieser Ergänzungen ist die letzte Folge, deren zweite Hälfte einen wunderschönen Epilog bereithält, welcher das Leben aller nun mittlerweile um 10 Jahre gealterten Mannschaftsmitglieder beleuchtet.
Es gibt erfreuliche Entwicklungen und traurige Schicksalsschläge, doch am wichtigsten ist Jim's Wiedertreffen mit Silver.
Der Ausgang dieser Szene ist der absolute Höhepunkt der Serie, denn ohne hier aufdringlich auf die Tränendrüse zu drücken werden hier durch den gealterten und senil gewordenen Silver, der seinen einstigen und besten Freund Jim nicht mehr wieder erkennt ganz große Gefühle geschaffen.
Welch wunderbares und trauriges Ende!
Auch hier macht das ursprüngliche Ende des Romanes im Nachhinein einen sehr enttäuschenden Eindruck.
Um mal nicht nur auf Roman rum zu trampeln, sei der wesentlich überraschendere und einfallsreichere Ausgang der eigentlichen Schatzsuche erwähnt, wobei die Fährte in der Serie dank einer kleinen Prise Fantasie auch so ihren Reiz hat.
Das ebenfalls dem Roman abweichende Geisterschiff, samt gehängtem Geist mag dem sonst eher realistisch gehaltenen Anime etwas befremdlich entgegen wirken, doch die einfühlsame musikalische Begleitung der Szene, in der sich Silver ein weiteres mal als Held erweist macht diesen kleinen Exkurs wieder ganz stark; wenn nicht sogar zu einer der Vorzeigeszenen der Serie!
Will man unbedingt Kritikpunkte aufzeigen, wird man bei den betagten Animationen fündig, denn sobald Schwerter gezückt werden, finden solche Duelle nicht selten in Freezeframes statt, so hat man also so einige Kämpfe, die quasi wie eine Dia Show abgespielt werden.
Der Zeichenstil ist schlicht, die Körperproportionen genauso wenig maßstabsgetreu, wie die großen Augen, doch japanische Zeichentrickkunst aus dem Jahre 1978 sah nun mal so aus, und trotz allem geizen die Bilder nicht mit Details und ergeben somit schöne, authentische Kulissen, auch wenn man sie natürlich nicht mit dem Detailgrad eines „Akira“ vergleichen darf.
Neben den angestaubten Bildern sei als wesentlich gewichtigerer Kritikpunkt der manchmal etwas unglaubwürdige Ablauf einiger Kampf- und Fluchtszenen erwähnt.
Nun die ganz kleinen werden hier naiv mitjubeln, alle anderen dürfen sich doch darüber wundern, wenn ein 13 jähriger es mit seiner Agilität schafft aus einem Raum voll mit Piraten durch Springen und Ausweichen zu entkommen.
Außerdem darf man sich gehörig die Hand auf die Stirn klatschen, wenn der blinde „Pew“ (wohlgemerkt BLIND) aufgebracht voraus grölt höchst selbst in der Truhe nachzusehen, um sich von ihrer Leere zu überzeugen...
Kleine Logikfehler und naive Unglaubwürdigkeiten seien der Serie aber ohne weiteres verziehen, und der Look ist im Endeffekt auch vollkommen nebensächlich, denn die stark erzählte Geschichte macht alles wett und reist förmlich in den Bann.
Wer die Romanvorlage kennt, muss zugeben, dass die vielen Abweichungen und Ergänzungen wirklich sinnvoll sind, und der ganzen Story die nötige Greifbarkeit verleiht, um die Charaktere wirklich lieben und hassen zu lernen.
Der Roman wirkt dagegen einfach lückenhaft und stark in seinen Möglichkeiten eingeschränkt.
Trotzdem möchte ich Stevenson für dieses an sich wegweisende und spannende Buch danken, welches den Weg für eine solch hervorragend ausgearbeitete Serie ebnete.
Eine wirklich fesselnde Geschichte wurde hier erzählt!!