Review

Der Alltag wird zum Albtraum. "Elephant" ist endlich wieder anspruchsvolles, nachdenkliches und brisantes Independentkino aus Amerika. Er dreht sich um eine der großen Gesellschaftsproblematiken der letzten Zeit, leider nicht nur in Amerika.

80 Minuten Aufmerksamkeit. So könnte man den Film von Gus van Sant beschreiben. Aufmerksamkeit für die zunehmend abgekapselte Welt der modernen Jugend. In langen Verfolgungsfahrten mit der Steadycam schildert der Regisseur das Leben an einer amerikanischen Highschool. Man sieht die Teens durch die Gänge laufen, sich begegnen, reden, lieben, am Unterricht teilhaben oder Fotos schießen. Und alle Gesichter werden uns mit Namen vorgestellt. Man bekommt einen kleinen, aber sorgfältigen und nicht oberflächlichen oder stereotypen Eindruck von den verschiedenen Persönlichkeiten.
Da ist der introvertierte John, der wegen eines betrunkenen Vaters nur Schwierigkeiten in der Schule hat. Da ist Elias, der an einem Projekt arbeitet und Fotos auf dem Schulgelände macht. Da ist schüchterne Michelle, mit ihrem fehlenden Selbstbewusstsein. Da sind die drei eitlen Girlies, die nach dem Essen gleich zum Kotzen gehen, um ja kein Gramm zuzunehmen. Und und und...

Es bildet sich ein breites Panorama, das kaum Klischees bedient. Die Kamera wechselt desöfteren die Perspektive und verfolgt immer andere der Personen auf ihrem täglichen Schultreiben. Dabei werden auch gleiche Situationen in verschiedenen Perspektiven gezeigt - Man trifft sich z.B. im Gang, was aus der einen Sicht und der anderen an unterschiedlichen Stellen des Films gezeigt wird. Es entstehen Vernetzungen, Freundschaften und soziale Verhaltensweisen werden sichtbar, man fühlt sich nahe dran an den Menschen.

Umso schmerzlicher, dass man jeden auch noch mit Namen kennt. Denn da ist schon früh im Film ein bedrohlicher Zeitpunkt, der erst später im Film aus den relevanten Perspektiven wieder aufgegriffen und fortgeführt wird: Da sind noch Eric und Alex. Als John aus der Schule herausgeht, trifft er auf beide mit ihren großen Rucksäcken und ihrer Militärkleidung. Auf seine Frage, was sie treiben, bekommt er die für den Zuschauer klare Antwort: "Mach das du wegkommst. Hier ist gleich die Hölle los."
Die Warnung. Und die Gewissheit. Dass der Film von nun an langsam aber sicher auf ie Katastrophe hinausläuft. Die Spannung ist hierbei geschickt sehr früh eingestreut, sodass der Rest des Films eine ständige Anspannung in sich trägt.
Doch auch die beiden Todesschützen bekommen ihre Aufmerksamkeit. Sorgfältig werden ihr Alltag, ihre Probleme und dann ihre Vorbereitungen geschildert. Bis es schließlich am Ende des Films zu den grausamen Ereignissen kommt, die einen geradezu fassungslos in den Kinosessel drücken. Kalt, zynisch und unberechenbar schießen die beiden auf alles, was sich bewegt, wobei van Sant glücklicherweise fast völlig auf unnötige explizite Brutalität verzichtet. Trotzdem ist die Szene dermaßen erschütternd und grausam. Wie die unscharfen Videobilder der Überwachungskameras in der Columbine Highschool.

Noch in den letzten Momenten stellt van Sant neue Charaktere vor, noch ahnungslos, was sie erwartet. Aber fassungslos ist man nach dem abrupten Ende nicht nur, weil man viele der Opfer kannte, weil ihnen Aufmerksamkeit gewidmet wurde, sondern, weil es schlicht und einfach keine Erklärung für die grausamen Bluttaten gibt. Das macht den Film so erschreckend real und genial. Man sieht die Täter im Vorfeld schon mal Egoshooter spielen, Nazidokus ansehen. Eine homosexuelle Beziehung sowie soziale Außenseiterrollen werden angedeutet, und ihr Waffenfanatismus, sowie amerikanische Waffenpolitik werden auch deutlich, als sie das einfach übers Internet bestellte Sturmgewehr geliefert bekommen.
Doch van Sant lässt die Andeutungen gleich wieder in der Versenkung verschwinden. Als Erklärungsansätze sind sie unbefriedigend, ungenügend. Sie sind nur kleine Teile eines Puzzles, was man von außen einfach nicht im Ganzen einsehen kann - Einer von beiden spielt sogar Klavier. Der Film will sagen, dass man den Amoklauf (eigentlich keiner, da präzise geplant) nicht einfach auf Oberflächlichkeiten, wie der Gewalt in PC-Spielen etwa, reduzieren kann. So ein komplexer psychologischer Prozess, der die Täter zu solch einer Unmenschlichkeit treibt, ist für Außenstehende unbegreifbar und nicht nur an einzelne böse Einflüsse von außen festzumachen. So werden die Täter in "Elephant" eben nicht pathologisiert - dem Zuschauer wird damit kein Ansatz geboten, die Taten in ihrem Kontext zu begreifen und als dramatische Zuspitzung kritisierter Zustände zu akzeptieren.

Sicherlich wäre ein besserer Jugendschutz hinsichtlich Waffen und medialer Gewalt ein Schritt in die richtige Richtung. Aber es ist falsch zu glauben, dass das ausreiche. "Elephant" weiß allerdings auch keine wirklichen anderen Antworten. Aber er regt wesentliche, oft übersehene Fragen auf, mit denen sich die gesamte Gesellschaft auseinandersetzen muss. Vielleicht, so vermute ich will der Film auch sagen, liegt der Schlüssel zur Veränderung in jener unüberheblichen Aufmerksamkeit, die der Film den Jugendlichen widmet. Jene 80 Minuten, in denen sie unverblümt und unter Gleichgesinnten zu Wort kommen dürfen. Die Kluft zwischen der Jugendlichen und der Erwachsenenwelt ist heute sehr groß. Dazwischen liegen Unverständnis, Missverständnis und Vorurteile. Die daraus resultierende Orientierungs- und Perspektivenlosigkeit, gerade der pubertätsgeprägten Adoleszenten (wie Eric und Alex welche sind) kombiniert mit der kaum eingeschränkten Freiheit unserer Gesellschaft wird dann zur potentiellen Gefahr!
Es würde einen langwierigen, schweren Lernprozess beiderseits erfordern, aber womöglich ist Integration das entscheidende Stichwort hier...

"Elephant" ist jedenfalls ein großes Werk, das viel mehr Menschen sehen müssten. 10/10.

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