„Wer war ich wirklich? Ehrlich.“ – „Du warst ein ziemliches Schwein!“ – „Darüber sind sich bisher alle einig.“
Für „Das Grauen kam aus dem Nebel“ und „Blutspur im Park“ hatte der italienische Regisseur Duccio Tessari bereits im Giallo-Genre gearbeitet, in das er 1974 mit „Der Mann ohne Gedächtnis“ zurückkehrte, als er ein Drehbuch des umtriebigen Ernesto Gastaldi verfilmte. Der Film bewegt sich irgendwo zwischen klassischer, Hitchcock’scher Thriller-Kost und edlem Giallo.
Der bedauernswerte Peter Smith (Luc Merenda, „Die Killermafia“) hat durch einen einige Monate zurückliegenden Unfall sein Gedächtnis verloren und lebt seither allein. Eines Tages konfrontiert ihn sein Therapeut mit einem vermeintlichen Freund namens Philip (Manfred Freyberger, „Der Nachtportier“), der jedoch behauptet, Peters eigentlicher Name wäre Edward und dass dieser ihn um Geld aus einem Drogengeschäft betrogen habe. Bevor Edward weitere Informationen erfragen kann, wird Philip jedoch von einem Unbekannten umgebracht. Kurze Zeit später erhält Peter ein Telegramm, angeblich von seiner Ehefrau Sara (Senta Berger, „Als die Frauen noch Schwänze hatten“), zusammen mit einem Flugticket zur italienischen Küstenidylle Portofino, wo sie seit Edwards Verschwinden mit ihrem Hund Whiskey lebt. Sara jedoch weiß nichts von diesem Telegramm und ist Edward gegenüber skeptisch. Dieser habe sich in der Vergangenheit nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Außerdem bereitet ihr vornehmlich Sorge, dass regelmäßig jemand in ihr Haus eindringt und alle Sachen durchwühlt, ohne etwas zu stehlen. In Portofino lernt Edward außerdem den frechen Nachbarsjungen Luca (Duilio Cruciani, „Zwiebel-Jack räumt auf“) und den Arzt Daniel (Umberto Orsini, „Emanuela, 2. Teil - Garten der Liebe“) kennen, die mit Sara eng befreundet sind, aber auch den verschnupften Ganoven George (Bruno Corazzari, „Tote Zeugen singen nicht“), der Edward eine Woche Zeit gibt, „die Ware“ herauszurücken oder eine Million Dollar zu zahlen. Quälend langsam setzt sich aus winzigen Erinnerungsfetzen nach und nach das Puzzle zusammen, das zu Edwards vergangener Identität führt…
Tessari beginnt seinen Film mit zwei zunächst separierten Handlungssträngen: Zum einen dem um „Ted“ (so Edwards Spitzname), der sein Gedächtnis verloren hat, zum anderen jenem um Sara, die mit dem kleinen Rotzlöffel Luca in Portofino unterwegs ist, deren scheinbar unbeschwertes Glück jedoch durch die Wohnungseinbrüche getrübt wird. Vom Zusammenhang zwischen Sara und Ted erfährt der Zuschauer erst, als die Handlung beide zusammenführt. Überhaupt bleibt der Zuschauer stets auf demselben Kenntnisstand wie die Protagonisten, wodurch „Der Mann ohne Gedächtnis“ nicht nur durchgehend spannend bleibt, sondern auch ein hohes Maß an Empathie entwickeln lässt. Doch damit nicht genug: Ein weiterer Kniff ist es, weitestgehend offen zu lassen, ob Ted seinen Gedächtnisverlust nicht vielleicht doch nur vorspielt. Je mehr Informationen der Zuschauer bzgl. seiner offenbar kriminellen Vergangenheit bekommt, desto mehr drängt sich auch dieser Verdacht auf.
Interessant gestaltet wurde auch die Wiederannäherung zwischen Sara und Ted, die zunächst von Misstrauen geprägt ist, sich jedoch auf natürliche Weise entwickelt. Hierbei werden zwei beinahe philosophische Fragen aufgeworfen: Ist es möglich, dass ein unter Amnesie leidender Mensch, der vor seinem Gedächtnisverlust moralisch verwerflich agierte und charakterlich alles andere als integer war, durch die Löschung seiner Sozialisation sich in eine gegenteilige Richtung entwickelt? Und ist, davon unabhängig, davon auszugehen, dass er sich trotzdem in dieselbe Person noch einmal verliebt? Diese Themen finden jedoch trotz sorgfältiger Charakterisierung beider nur am Rande statt; vornehmlich ist „Der Mann ohne Gedächtnis“ daran interessiert, die genretypisch unbehagliche Atmosphäre innerhalb eines sommerlichen Sonnenparadieses zu erzeugen. Dies geschieht neben der fortwährenden Angst vor der eigenen Vergangenheit durch die visuelle Überbetonung bestimmter Details ebenso wie durch die Verletzung der Privatsphäre durch Menschen, die unbekümmert in Saras Haus ein- und ausspazieren. Und natürlich spielt die eine oder andere Szene auch nachts, so dass die unheimliche Stimmung von der Dunkelheit profitiert. Weitaus weniger giallioesk ist die komplette Abwesenheit eines mit Stich- und Schneidewerkzeugen bewaffneten, schwarzbehandschuhten Serienmörders, der ein Opfer nach dem anderen fordert – was den Film jedoch umso eigenständiger macht.
Droht das Liebesglück Saras und Teds einmal zur allzu kitschigen Idylle zu mutieren, konterkariert es die Handlung mit auf den Boden der Tatsachen zurückholenden Ereignissen wie dem Drapieren des ermordeten Hunds auf Saras Bett. Ted und George liefern sich ein spannendes Duell und treffen immer wieder aufeinander, was schlussendlich in einer handfesten Auseinandersetzung mündet. Schließlich bedient sich Tessari dann doch noch bei Elementen des Horrorfilms und inszeniert ein kräftiges Gewitter, lässt Ted von gelegentlichen Erinnerungsfetzen durchfahren, arbeitet hin und wieder mit dramatischen Zeitlupen und zaubert letztlich die wiederum wunderbar überraschende Wendung nach bester Giallo-Manier aus dem Hut. Im Finale entlädt sich konsequent alle (An)Spannung und der in Sachen Brutalität eher zurückhaltende Film geht doch noch in die Vollen, dass es ein wahres Sägen ist. Aus dem einwandfrei agierenden internationalen Schauspieler-Ensemble sticht zweifelsohne insbesondere Senta Berger hervor, der es gelingt, den Film mit Sinnlichkeit und einem leichten Erotikfaktor zu versehen, auch ohne den Blick auf ihre Geschlechtsorgane freizugeben. Eine erwähnenswerte weibliche Nebenrolle bekleidet außerdem die genreerfahrene Anita Strindberg („Der Schwanz des Skorpions“). Die gelungene musikalische Untermalung Gianni Ferrias sowie die unter Tessari einmal mehr herausstechende Kameraarbeit und der punktgenaue, bisweilen originelle Schnitt runden diesen Ausnahme-Genrefilm ab, der trotz seines Titels im Gedächtnis bleibt – gerade weil er nur wenig auf Formelhaftigkeit und Exploitation gibt.