AM ENDE ZIEHEN DIE STERNE VORÜBER
Als der Dokumentarfilmer und Kameramann Ron Fricke mehr als ein Jahr lang die Welt bereiste, d.h. sie dreimal umrundete, um die Aufnahmen für seinen Film Baraka zu machen, legte er besonderen Wert auf die optische Qualität seiner Bilder. Seine Arbeit darauf zu reduzieren, bedeutet allerdings, ihn misszuverstehen – und es sich leicht zu machen. Baraka ist mehr als der Schauwert seiner Teile. Der Film ist trotz seiner augenfälligen visuellen Kraft vor allem eines: Kino im Kopf. Das macht es nicht leicht, über ihn zu sprechen, über ihn zu schreiben, denn er funktioniert zutiefst filmisch, nicht intellektuell, sondern bildhaft auf einer Ebene, die nur Film ausgestalten kann.
Ron Frickes technische Perfektion und Finesse sind unbestritten. Er stellte sie 1982 für Godfrey Reggios Koyaanisqatsi unter Beweis, einem Film, dessen Kulturkritik teilweise dem Anliegen Barakas ähnelt und so als Vorläufer gelten kann. Die Qualität der Bilder entwickelte Fricke weiter: für Baraka nutzte er das kostspielige Todd-AO-Filmformat, das im Gegensatz zu anamorphotischen Verfahren wie Cinemascope seine Bilder tatsächlich auf breiterem Filmmaterial einfängt. Das 65mm breite Kameranegativ wird dabei auf 70mm kopiert, die Projektion erfolgt auf eine gewölbte Leinwand, spezielle Projektoren sind notwendig, kaum ein Film wird in diesem Format aus den 50ern produziert. Baraka war der erste seit 1971. Fricke entwickelte sein eigenes Kamerasystem, seine Zeitraffertechnik ist berühmt. Für Baraka gelangen ihm ebenso faszinierende wie kunstvolle Aufnahmen von Landschaften, Tieren, Menschen, Architekturen. George Lucas beauftragte ihn, für Star Wars: Episode III - Revenge of the Sith auf Sizilien den lavaspeienden Ätna filmisch zu bändigen. Aber Fricke ist nicht nur ein besserer National-Geographic-Fotograf der bewegten Bilder. Fricke war auch als Autor und Editor an Koyaanisqatsi beteiligt, er schrieb und editierte auch Baraka. Seinen Bildern liegt ein philosophischer Impuls zugrunde und er will trotz aller Suggestionskraft vor allem Fragen aufwerfen. Seine Grundidee für Baraka basierte erklärtermaßen auf der Beziehung des Menschen zur Ewigkeit.
„This is really a guided meditation“, sagt Fricke über seinen Film. Zu diesem Zweck beließ er es nicht bei der Aneinanderreihung dokumentarischer Eindrücke von Mensch und Umwelt, zeigt uns nicht bloß einen spektakulären Bilderbogen, der uns Staunen macht ob dieses faszinierenden Planeten, auf dem wir leben. Vielmehr ist dieses Staunen erst der Anfang und wir haben in Baraka die Möglichkeit, über das Staunen hinauszugehen und es fruchtbar zu machen. Das Gebiet, auf dem sich Baraka bewegt, ist aus seinem Material ersichtlich: Naturaufnahmen und Kulturaufnahmen scheinen zunächst einen Kontrast darzustellen. Hier die scheinbar ewige Schönheit der Natur, dort der Einbruch menschlicher Zivilisation und dazwischen die Naturvölker, die doch irgendwie besser, nämlich im Einklang mit der Natur leben. Sieht man Baraka auf diese Weise, dann ist er der Vorläufer von Camerons Öko-Märchen Avatar. Allein: Baraka verharrt nicht an diesem Punkt, sondern führt uns weiter. Ohne Zweifel beeindrucken die Bilder, die Farben, die Formen. Doch zugleich zwingt der Film seinen Betrachter konsequent in die Rolle des Fragenden und nutzt dafür auch dessen natürliche Neugier. Wo ist das? Was ist das? Wer ist das? Manches wird wiedererkannt, vieles bleibt andersartig und fremd. Alles aber bleibt unerklärt. Der Film will vor Augen führen, nicht beantworten. Wieder in Frickes eigenen Worten: „It's not about where you are or why you are there - it's what's there, what you are feeling there“. Frickes Montage folgt zwar dramaturgischen Formen wie dem Wogen von Anspannung und Entspannung, unterstützt durch die unterlegte Musik, aber sie bietet keinen simplen Schlüssel, mit dem der Zuschauer die Bilder erschließen könnte. Montage und Musik führen uns durch den Film, aber was der Betrachter erlebt ist seine eigene Emotionalität. Der Film verschränkt Bilder, Assoziationen, Aspekte und Themen immer wieder, mäandriert und kreist um sein zentrales Motiv: Zeit.
Das Gegensatzpaar lautet also weniger „Natur und Mensch“, sondern eher „Ewigkeit und Vergänglichkeit“ Wenn man überhaupt in Polaritäten sprechen will. Der Film bemüht sich gerade, Gegensätze wie „hier und dort“ oder „einerseits, andererseits“ zu eliminieren, indem er alles in Eins fallen lässt. Im Film ist sich alles nah. Die Bilder sogenannter unberührter Natur, von Landschaften und Leben strahlen große Ruhe aus – wir bekommen den Eindruck, es sei nie anders gewesen und werde nie anders sein. Das ist eine Wahrnehmung, die dem Menschen eigen ist, denn er überblickt zeitlich zu wenig, als dass er die langsamen Veränderungen wahrnehmen könnte. Dabei ist dem Menschen im Gegensatz zu Fels und Tier seine eigene Vergänglichkeit bewusst. Das Existenz-Dilemma des Menschen, der zwar vom Baum der Erkenntnis, nicht aber vom Baum ewigen Lebens gegessen hat. Baraka ist auch ein Memento mori, das dem Menschen seinen natürlichen oder selbstverschuldeten, stets aber unausweichlichen Tod vor Augen führt. So ist dem Film die spirituelle Dimension menschlicher Lebensgestaltung besonders wichtig. Wir sehen Tempel und Rituale, Gebete und Verinnerlichung. "Baraka" bedeutet unter anderem so viel wie "Atem des Lebens". Unter anderem - auch hier ist der Film nicht simpel und eindeutig. Verschiedene Kulturen, verschiedene Sprachen, ein Wort, viele Bedeutungen.
Eine Kernfrage, die Baraka aufwirft, lautet: was ist sich der Mensch in der Zeit. Der Film bietet Bilder dazu an. Bilder vom Lauf der Zeit, Bilder vom Tod, Bilder von den Ritualen, die sich die Menschen geschaffen haben, Bilder von Aufbau und Abtragung. Der Mensch richtet sich im Lauf der Zeit und überall auf der Erde ein – Baraka zeigt das und zeigt vor allem, wie nah sich eigentlich alles ist. Durch die Technik der Filmmontage rückt alles zusammen und so geht es weniger um die vordergründigen Gegensätze als um die Ähnlichkeit und Nähe: das Global Village, das uns dazu bringt, Verantwortlichkeit zu spüren. Die von Michael Stearns gestaltete Musik folgt demselben Prinzip. Sie vereint die Klänge, Töne, Geräusche unterschiedlichster Orte und Kulturen und macht hörbar, dass sie so unterschiedlich nicht sind. Zu den brennenden Ölquellen Kuweits erklingen japanische Kodo-Trommeln, tibetanische Wassermusik und schottische Dudelsäcke - „a kind of world-orchestra“, wie Stearns es selber nannte.
Ist Baraka also eine Mahnung und eine Schuldzuweisung? Dann wäre er allerdings eine poröse Fassade. Baraka ist weder für den Ayers Rock, die Tiere auf den Galapagos-Inseln oder die vergangenen Kulturen oder Naturvölker gedacht, die er zeigt. Er ist selber nur in der Form von Zivilisation möglich, die er zu kritisieren scheint. Sein Publikum sitzt vor Bildern, die mittlerweile in HD-Abtastung digitalisiert wurden, und womöglich sitzt es auf Mobiliar, das aus eben jenem gefällten Holz des Regenwaldes besteht, den wir da sehen. So wäre Baraka als selbstverlogenes Moralurteil zu verstehen – oder eben misszuverstehen. Besonders die Bilder, in denen Menschen mit direktem, unverwandtem Blick in die Kamera blicken, die uns ansehen, haben zwar etwas Anklagendes in sich. Oder eben doch wieder das Fragende. Der Betrachter muss antworten, sich selbst. Die Perspektive, die sich aus dem Film auf unsere Welt ergibt, ist gerade keine eindeutige, mit der seine Zuschauer Gefahr laufen würden, sich allzu echauffiert oder beglückt und sich jedenfalls ihrer selbst sicher zurückzulehnen ohne weiter ergriffen zu sein. Baraka legt es mehr auf Verwirrung an. Gehören diese Mauern auch zu Auschwitz? Sind die Japaner wirklich wie die puscheligen Küken in der Fabrik? Sind die hüpfenden Menschen dort glücklicher als diejenigen, die da auf der Müllhalde suchen, oder als ich hier? Baraka bewirkt Fragen und Hinterfragungen, von Bildern, von Vorstellungen, die wir haben, auch von uns selbst. Was er zeigt, findet direkte Fortsetzung im Kopf des Betrachters, der sich irgendwie zu diesen Bildern positionieren muss. Dabei bietet weder die Schönheit einen einfachen Ausweg, noch die Klage von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens. Diesen Positionen wird stets auch das Andere vorgeführt. Im Unzulänglichen liegt auch die Schönheit und in der Schönheit auch das Unzulängliche. Der Flugzeugfriedhof ist schön, die Brandung am Felsen keineswegs ewig. So ist es überall auf der Welt. Am Ende ziehen die Sterne vorüber – und auch das wird sein Ende haben. Eine einfache Antwort gibt es nicht. Sehr wohl aber die Verantwortung und das Bewusstsein, zu denen das Sich-Stellen solcher Fragen ein erster Schritt ist.
Baraka eröffnet den Blick des Menschen auf sich selbst, seine Wahrnehmung, seine Missverständnisse, sein begrenztes Leben im Laufe der Zeit, fordert seinen Betrachter auf, sich selbst in dieser Welt zu verorten. Und das auf emotionale, nicht intellektuelle Weise. Aus diesem Grund kommt der Film auch ohne die Benennung von Orten aus, nach denen mancher Betrachter bis zum Abspann vergeblich suchen mag. „It is not about labeling this or that“, meint Fricke dazu, und sein Co-Autor und Produzent Mark Magidson ergänzt: „It's really meant to be a moving emotional experience about life on the planet and each of our place here“. Nicht mehr und nicht weniger – nur Film kann das leisten und Baraka leistet es auf bemerkenswerte Art und Weise.