„Ich lass‘ nie wieder zu, dass jemand zwischen uns steht!“
…wiederholt beständig eine kurzhaarige Frau mit zerschundenem Rücken, den sie, in einer Klinik verharrend, dem Zuschauer zugekehrt hat. So beginnt der Prolog von „High Tension“, dem berüchtigten Zweitwerk des französischen Jungregisseurs Alexandre Aja („The Hills Have Eyes“-Remake), dem damit bereits 2003 der Durchbruch gelang – und eine neue französische Horrorkino-Ära lostrat, die sich vor allem durch den gesteigerten Grad an expliziter Brutalität auszeichnete und damit perfekt in die beispielsweise von Luc Lagier erkannte und im Dokumentarfilm „Horrorfilme - Von Apokalypse, Viren und Zombies“ beschriebene allgemeine neue Horror-Bewegung passte, die Anfang der 2000er-Jahre entstand.
„Wie alle anderen zu sein, kotzt mich an!“
Damals war nämlich erst einmal Schluss mit lustig und bar jeder Komik oder Selbstironie entstand dieser Slasher, der dem Subgenre seine Härte und Düsterheit zurückbrachte. In der Titelsequenz rennt besagte Dame, Marie (Cécile De France, „Irène“) ihr Name, schwerverletzt auf einer Straße an einem Waldgebiet und stoppt ein Auto, um um Hilfe zu bitten. Diese Szenen entpuppen sich als Traum, sie erwacht während einer Autofahrt mit ihrer Freundin Alex (Maïwenn Le Besco, „Osmosis“). Es geht zu Alex‘ Eltern auf dem Lande, um ein paar Tage auszuspannen. Ein gemütlicher kleiner Urlaub soll es werden. Doch in der ersten Nacht im Haus von Alex‘ Eltern fährt ein grobschlächtiger Mann in einem Lieferwagen vor, dringt ins Haus ein, schlachtet Alex’ Familie regelrecht ab und entführt Alex. Marie beobachtet die unglaubliche Szenerie und fährt heimlich auf der Ladefläche des Lieferwagens mit, setzt alles daran, ihre Freundin zu retten – ein Kampf auf Leben und Tod…
Nach Maries Erwachen im Auto scheint jedoch zunächst noch alles in Ordnung. Im Radio ertönt der grandiose Italo-Pop-Smasher „Sarà Perché Ti Amo“ von Ricchi e Poveri, was ich als erste Ehrerbietung an das italienische bzw. europäische Genrekino vergangener Zeiten verstehe. Beide jungen Frauen singen lautstark mit, ihre Fahrt führt sie durch fernwehweckende Landschaften, von der Kamera in tollen Farben und voller Melancholie wunderbar eingefangen. Getrübt wird die Idylle durch den nur für den Zuschauer sichtbaren Lieferwagen, in dem offenbar gerade Oralverkehr vollzogen wird – mit einem abgetrennten Kopf, wie sich herausstellt, als ihn der Fahrer achtlos aus dem Fenster wirft.
Angekommen im Haus der Eltern präzisiert „High Tension“ die Beziehung der Frauen zueinander: Marie ist offensichtlich lesbisch, mindestens bisexuell, spürt auf jeden Fall eine starke Zuneigung zu Alex, die wiederum anscheinend nur platonisch an ihrer Freundin interessiert ist. So beobachtet Marie Alex beim Duschen und besorgt es sich anschließend selbst. Plötzlich klingelt der Mörder und ermordet Alex‘ Vater brutal und sadistisch. Eine rasche Kamerafahrt durchs Haus vollzieht einen Perspektivwechsel, der den Zuschauer mitansehen lässt, wie die ganze Familie bis auf Alex getötet wird. In langsamen Sequenzen walzt Aja die Spannung voll aus. Nachdem der Mörder Alex gefesselt hat, kann Marie sie nicht rechtzeitig befreien, so dass er, ohne von Marie Notiz zu nehmen, ihre Freundin entführt. Maries Mitfahrt auf der Ladefläche führt zu einer Tankstelle, in der der Mörder nach einer Flasche J&B-Whiskey-Verschnitt fragt, was als weitere Reminiszenz an das europäische Genrekino zu interpretieren ist, wurde doch damals entsprechendes Product Placement exzessiv betrieben. Die Tankstellenszene ist es auch, die weitere subtile Hinweise auf die überraschende Wendung im Finale bietet, die bei der Erstsichtung gern übersehen werden.
Marie bleibt scheinbar allein an der Tankstelle zurück, der Kassierer ist ebenfalls tot. Als der Mörder mit Alex davonbraust, alarmiert sie die Polizei, die jedoch nicht weiß, von welcher Tankstelle aus sie anruft. Es folgt eine Verfolgungsjagd, die in einen Unfall mündet; Marie rettet sich blutüberströmt aus dem Wrack. Es kommt zur ersten direkten Konfrontation mit dem Mörder, der sie zu ersticken versucht und sie quält. Sie setzt sich mit allen Kräften zur Wehr und schlägt ohne Unterlass auf ihn ein, greift schließlich zur Plastikfolie – mit Erfolg. Schnitt, zurück zur Tankstelle: Die Polizei ist endlich eingetroffen und schaut sich das Überwachungsvideo, das die Ereignisse in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt… Dieser Moment leitet das eigentliche, von Hysterie und Wahnsinn geprägte Finale ein. Endlich kann Marie Alex entfesseln und vom Knebel befreien, sieht sich daraufhin jedoch mit der Wahrheit konfrontiert. (Achtung, ab jetzt massive Spoiler!) Die unter einer multiplen Persönlichkeit leidende Marie fällt daraufhin in ihre Mörderrolle zurück und rennt, längst völlig entstellt, mit einer tragbaren Kreissäge hinter Alex her. Diese bekommt ein Polizist zu spüren, was Aja zum Anlass für eine deftige Splatterszene nimmt. Auf einen morbiden Kuss folgt eine Art Pfählung, bevor man sich schließlich im Prolog in der Klinik wiederfindet.
„Liebst du mich? Du liebst mich nicht!“
Was Alexandre Aja mit „High Tension“ geschaffen hat, ist ein Terror-Slasher oberster Kajüte, der überaus erfolgreich an das seinerzeit populäre Mindfuck-Kino mit seinem (mehr oder weniger) überraschenden Wendungen anknüpft. Neben seiner nicht vorhandenen Scheu vor immenser Körperlichkeit, die fein dosierte Gewaltexzesse grafisch explizit herausstellt und dabei trotz mancher Überzeichnung das Leid der Opfer auf weit unangenehmere Weise miterlebbar macht, als es jede überdrehte Splatter-Orgie könnte, war es eben dieser Plot Twist, der für Diskussionen sorgte. Die Palette der Kritik reichte dabei von „zu vorhersehbar“ bis „vollkommen unlogisch“ und „eine Frechheit!“. Bei genauerer Betrachtung offenbart sich jedoch, mit welcher Sorgfalt Aja diese Wendung vorbereitet und wie tatsächlich ein Rad ins andere greift, viele Logiklücken letztlich psychologisch erklärbar werden. Nichtsdestotrotz handelt es sich selbstverständlich um kein wissenschaftlich fundiertes Psychogramm, sondern um einen harten Genre-Film, der die psychologische Komponente lediglich sowohl als originellen Aufhänger verwendet, als auch um genretypisch an verbreitete Ängste zu appellieren.
Gern übersehen wird dabei, dass es sich im Grunde zumindest auch um eine tragische Liebesgeschichte handelt, um irrsinnig starke Gefühle, die fehlgeleitet werden, weil eine psychisch angeschlagene Person nicht mit ihnen umgehen kann. In diesem Zusammenhang muss ich unbedingt auch den Erotikfaktor erwähnen, den insbesondere Cécile De France einbringt. Sie schauspielert nicht nur grandios und augenscheinlich aufopferungsvoll, sondern ist ein wahrer Augenschmaus für alle, die auf kurzhaarige Frauen stehen. Und wie sie schließlich gegen Ende mit der portablen Säge in der Hand blutverschmiert dasteht, hat etwas derart Archaisches und dennoch Weiblich-Lustvolles, Leidenschaftliches an sich, dass sich diese Szene regelrecht eingebrannt hat. Einiges über sich ergehen lassen muss auch Maïwenn Le Besco, die einen gänzlich anderen Frauentypus verkörpert. Beide Charaktere befinden sich nach dem Beginn permanent in Extremsituationen, beide Schauspielerinnen verleihen diesen glaubhaft Ausdruck und tragen damit zur Ernsthaftigkeit des fesselnden, in der Tat hochspannenden Films bei. Die Rolle des Mörders fiel Philippe Nahon („Calvaire - Tortur des Wahnsinns“) anheim, den man nur selten so richtig zu Gesicht bekommt und der in erster Linie als Charakterdarsteller möglichst asozial, abgeklärt und dreckig wirken soll, was ihm – so wirkt es zumindest – mit Leichtigkeit gelingt. Dialogszenen hat er kaum.
Die rumänischen Drehorte erwiesen sich als prädestiniert für den düsteren Look des Films und verleihen ihm etwas Backwood-Touch. „High Tension“ kommt ohne hektische Schnitte aus, stattdessen drosselt der junge Aja gern einmal das Tempo im Stil der alten Meister, um Spannung und Suspense zu erzeugen. Die entschlossene Grimmigkeit und Konsequenz wiederum ist spürbar die eines jungen, hungrigen Filmemachers, der mit diesem rundum gelungenen Film einen modernen Klassiker geschaffen und sich für weitere Produktionen empfohlen hat, woraufhin seine Karriere recht steil verlief. Und wer „High Tension“ einmal gesehen hat, wird wohl immer eine Gänsehaut bekommen, wenn er den zweimal – einmal davon im Abspann – ertönenden, die Melancholie des Films (ja, die gibt es!) und seine Energie auf den Punkt bringenden Song „New Born“ der Band Muse zu hören bekommt. Ein Brett von einem Horrorfilm, europäisches Genrekino in Hochform!