Jaja, ich weiß, ich weiß, ich bin wahrscheinlich der Dreißigmillionste, der sich zu „Haute Tension“ äußert, aber bitte gebt mir eine faire Chance...
Achtung, Spoiler möglich!
Schon herrlich. Da sind sich ausnahmsweise mal nahezu alle Horrorfans einig, daß der französische „Haute Tension“, obschon er das Slasher-Genre nicht neu erfindet, sondern allerhöchstens reanimiert, es verdient hätte, einen Spitzenplatz in der Kategorie der besten Horrorfilme der letzten Jahre zu belegen...
... wenn, ja wenn da nicht diese vermaledeite Schlußpointe wäre, die auf der einen Seite zwar genügend Überraschungspotential in sich birgt und alles bis dahin Gezeigte prompt so sehr auf den Kopf stellt, daß dem Betrachter in bester „The Sixth Sense“-Manier ein zweiter Blick auf den Film geradezu aufgezwängt wird, auf der anderen Seite jedoch einen unübersehbar riesigen Haufen logischer Probleme hinterläßt, der sich auch mit dem größten Handfeger nicht so einfach wegkehren läßt. Das Ergebnis, klar: Zahlreiche hoffnungslos verärgerte und enttäuschte Menschen, die sich ganz schön verarscht vorkamen und „Haute Tension“ deshalb kurzerhand auf den letzten Metern mit Liebesentzug bestraften: Wie kann Alexandre Aja es nur wagen, dieses ansonsten ausgezeichnete Werk durch eine solch hanebüchene Wendung, nur weil sowas in der heutigen Zeit „in“ ist, kaputt zu machen? So der allgemeine Tenor auf praktisch jeder Filmseite, auf jedem Filmforum.
Ich muß zugeben, mir ging es auf Anhieb nicht anders. Da schwirrten für mich einfach zu viele dicke Fragezeichen in der Luft herum, als daß man sie gnädig übergehen konnte. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Gleichgesinnten beschlich mich nie das Gefühl, durch diesen Twist wäre der komplette Film zerstört worden. Nein, ich bin der Meinung, durch diesen Twist erhält er erst seine Würze und wird dankenswerterweise aus dem altbekannten Fahrwasser eines „Wrong Turn“ oder aus dem des Kettensägenmassaker-Remakes gehievt, alles unterhaltsame, aber halt doch bloß gewöhnlich-simple Horrorproduktionen mit zügigem Verfallsdatum, bei denen es mit „einmal angucken“ getan ist. Aja hingegen liefert uns in „Haute Tension“ in Person der Hauptfigur eine für einen Slasher fast einmalig vielschichtige Charakterstudie ins Haus, und das sollte an dieser Stelle auch einmal unbedingt honoriert werden, wenn es sonst keiner tut. Daß sich Marie letzten Endes eben nicht als die tapfere Heldin entpuppt, wie es hier von A bis Z den Anschein hatte, diese Enthüllung haut wirklich rein und verstört weitaus stärker und länger als alles andere, was das einfallslose Genrekino seit Jahren herausgebracht hat.
Außerdem: Seien wir doch einmal ganz ehrlich. So gewöhnungsbedürftig die Vorstellung auch ist, daß sich ein und dieselbe Person an zwei verschiedenen Orten gleichzeitig befindet und sich sogar selbst verfolgt - die Hauptschwierigkeit des Plots, mit der sich die meisten nicht abfinden wollen; kein Wunder, man braucht nicht übermäßig schlau zu sein, um festzustellen, daß für den Film die physikalischen Grundsätze dreist außer Kraft gesetzt wurden -, sie ist außerordentlich reizvoll und in der Form vielleicht noch nie dagewesen. Da beschweren wir uns alle Nase lang , daß das Genre keine frischen Ideen mehr auf Lager hätte, dann bringt Aja doch noch etwas Neuartiges, indem er mit unseren Sehgewohnheiten bricht, und es ist uns auch wieder nicht recht.
Sicherlich - es ist schwer (auch für mich), das vorliegende Drehbuch NICHT zu attackieren, gerade weil sich, hat man sich mit dem ungewohnten Blickwinkel arrangiert, noch immer nicht alle Ungereimtheiten aus der Welt schaffen lassen, auch nicht, wenn man berücksichtigt, daß die Geschichte vom Standpunkt der Hauptfigur Marie im Rückblick erzählt wird (es sei denn, man nimmt an, sie versuche Münchhausen oder Keyser Soze ernsthaft Konkurrenz als Lügenbaron machen zu wollen). Beispielsweise bleibt mir beim ersten bizarren Auftritt des Killers nach wie vor ein Rätsel, wie er sich ins Gesamtkonstrukt des Films einfügt oder ob er sich überhaupt plausibel einfügen läßt. Der Rest entwickelt sich (wohlgemerkt: ab dem zweiten Sehen) bis zehn Minuten vor Schluß mehr oder weniger zum munteren Ratespiel für den Zuschauer, es liegt an ihm, die Antworten auf die Fragen herauszufinden, was wahr ist und was Einbildung und wie sich die Mordnacht tatsächlich zugetragen hat. Logikfanatiker werden dabei frühzeitig kapitulieren, sich darauf einzulassen, ist jedoch Grundvoraussetzung, um der Pointe etwas abgewinnen zu können.
Zudem treten mit jedem weiteren Anschauen immer neue, auf den ersten Blick unauffällige Details zutage, die zumindest mir nicht sofort ins Auge gestochen sind (man betrachte Maries Kopfbewegungen während der Enthauptungssequenz) und die subtil auf den Clou hinweisen. Zwar werde ich das Gefühl nicht los, daß Aja beim Anfertigen des Skripts an etwas gedacht hat, was über ein „Ach, komm, laß uns mal auf Teufel komm heraus eine Riesenüberraschung zum Schluß einbauen“ hinausgeht, an etwas, das alle scheinbaren Unwahrscheinlichkeiten wahrscheinlich macht, aber das ist halt nur so ein Gefühl. Die von fast jedermann getätigten Vorwürfe, daß das Drehbuch phasenweise undurchdacht erscheint, sogar schlampig, kann ich leider nicht entkräften, auch wenn ich’s liebend gern täte und für alle Unklarheiten Erklärungen parat hätte.
Drehbuchkritik hin oder her - vom technischen Standpunkt aus, und hier wird mir nun keiner widersprechen wollen, bringt Aja alles mit, was einen hervorragenden Regisseur ausmacht. Aus einem solch dünnen und mindestens tausendundeinmal durchgekauten Inhalt einen sich auf höchstem Spannungslevel bewegenden Güteklasse-A-Terror-Schocker zu konstruieren, das ist verblüffende Extraklasse. Atmosphärisch nicht zu toppen konzentriert er sich auf das Wesentliche, reduziert seine ohnehin geringe Protagonistenanzahl bemerkenswert brutal (was unseren wachsamen Zensoren natürlich nicht entgangen ist) und erstaunlich gnadenlos (das Schicksal des kleinen Jungen geht tief unter die Haut), wie es im Hollywood von heute niemals denkbar wäre, bereits nach etwas mehr als einem Drittel auf ein handliches Drei-Personen-Stück (Marie, Killer, Freundin Alex, letztere ununterbrochen gefesselt und geknebelt; zwischenzeitlich gesellt sich noch ein Tankwart hinzu), das sich quasi in Echtzeit abspielt, und bietet von da an Versteckspiele und Verfolgungsjagden am Stück sowie Tempo und Dynamik pur fast ohne Atempause. In Mitleidenschaft gezogen werden die Nerven dabei mehr als genug - spätestens wenn zum Höhepunkt die Motorsäge herausgekramt und so leidenschaftlich benutzt wird, daß das Blut nur so auf die Kameralinse spritzt und der Splatterfaktor nochmals rapide in die Höhe schnellt, dürften auch dem Hartgesottensten, der meint, schon alles gesehen zu haben, fassungslos die Haare zu Berge stehen, sofern er welche hat.
Die Effekte und die Masken von Lucio-Fulci-Spezi Giannetto de Rossi befinden sich auf hohem Niveau, nur die Ausführung des ersten Mordes wirkt aus technischer Sicht etwas uneben, das blutreiche Resultat nichtsdestotrotz erschreckend genug. Jede Kameraeinstellung scheint ganz im Stile Hitchcocks vor den Dreharbeiten haargenau geplant gewesen zu sein, Bild und Ton (eine gleichsam minimalistische wie wirkungsvolle Geräuschkulisse, manchmal sind nur das Schnaufen des Killers oder dessen knarrenden Schuhe zu hören, manchmal ein bedrohliches Dröhnen oder herzklopfähnliches Bummern) harmonieren prächtig, was umso wichtiger ist, weil Dialoge schnell nur noch spärlich gesprochen und mitunter minutenlang komplett aufgegeben werden. Gar als meisterhaft einzustufen wäre dabei der zweimalige Einsatz des garantierten Ohrwurmbescherers „New Born“ von Muse. Hier zeigt sich eindrucksvoll, wie perfekt die Bilder auf den Song abgestimmt wurden, vor allem während der Autoverfolgung, bei der die Kamera abwechselnd zwischen den drei Hauptcharakteren hin- und herschaltet. Extra für diese Szene komponierte Spannungsmusik hätte die Handlung nicht besser unterstützen können.
Die Figuren sprechen ausnahmsweise mal kein dummes Zeug und nerven nicht durch kreuzdoofe Verhaltensweisen. Marie qualifiziert sich völlig problemlos für die Rolle der Heldin, denn sie handelt jederzeit nachvollziehbar (mag die hysterische Reaktion beim Telefonat mit der Polizei in der Tankstelle, nur weil die notwendigerweise nähere Auskünfte über Maries derzeitigen Aufenthaltsort einholen will, vielleicht im Nachhinein auf den einen oder anderen reichlich übertrieben wirken, für mich funktioniert die Szene) und nach bestem Wissen und Gewissen. (Daß es so etwas tatsächlich noch in Slashern gibt. Sieh mal einer an...) Schmerzhaftes Beißen in die Tischkante ist also nicht angesagt. Auch sonst kommt der Film ohne Ärgernisse in Form von augenausrupfwürdigen Klischees aus, wobei die „Falscher-Alarm“-Maisfeldsequenz gleich zu Beginn noch am überflüssigsten wäre.
Um keine Minute zu lang oder zu kurz (83 Minuten ohne Abspann, 20 Minuten für die Exposition) braucht „Haute Tension“ den Vergleich mit den besten Genrevertretern keineswegs zu scheuen. So interessant die langwierige Puzzlearbeit ist, so wünschenswert wäre selbstverständlich etwas mehr Achtsamkeit hinsichtlich des immer noch Fragen aufwerfenden Twists gewesen (wenn schon ein Twist, dann bitte keinen halbherzigen, der hinterher nur teilweise Sinn zu machen scheint - dafür gibt’s folgerichtig Punktabzüge, solange ich nicht vollständig von einer logischen Auflösung überzeugt bin), aber da habe ich schon wesentlich mieser Durchdachtes gesehen, und die an den Tag gelegte ICE-Geschwindigkeit der Inszenierung sowie die noch gar nicht von mir erwähnten erstklassigen darstellerischen Leistungen (allen voran von der lebendigen, an Ausdrucksfähigkeit nichts zu wünschen übrig lassenden Cécile „Marie“ de France, aber auch der auf abstoßende Scheusale abonnierte Philippe Nahon steht ihr in nichts nach - bei ihm reicht die bloße Präsenz, um zu einem der düstersten kompromißlosesten Schlächter der Filmgeschichte zählen zu dürfen) lassen einen leichter darüber hinwegsehen und machen diesen schonungslosen, extrem blutrünstigen, hammerharten Horrortrip ohne Wenn und Aber zu einem für Fans unverzichtbaren und unvergeßlichen Leckerbissen, der sich ohne Qualitätsverluste mehrfach (d.h. mindestens zweimal, aber gern auch noch häufiger) goutieren läßt.
Spontan von mir mit 7/10 bedacht (wegen oben ausführlich dargelegter Probleme), ist er inzwischen auf meiner Ofdb-Punkteskala auf bombenfeste 8/10 geklettert, womit er sich zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten für meine persönlichen Slasher-Favoriten „Halloween“ und „Nightmare on Elm Street“ gemausert hätte. Vielleicht schließt er eines Tages gar noch zu ihnen auf 9/10 auf, dazu muß er allerdings noch etwas reifen. Zeug zum Klassiker hat er auf jeden Fall.