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WENN DER STUMMFILM WEITERGEHT

Sogenannte "Experimentalfilme" verschrecken mit Leichtigkeit Menschen, die mit diesem Begriff intellektuelle Selbstbefriedigung, verkopfte Unverstehbarkeit und folglich pure Langeweile assoziieren. Zugegeben: experimentelles Kino ist nicht Jedermanns Sache und kann sehr anstrengend sein. Der Film The Saddest Music in the World von Guy Maddin befindet sich zweifellos nicht im Bereich eines wie auch immer gearteten Mainstream-Kinos, geht in vielerlei Hinsicht eigene, völlig unverwechselbare Wege, ist Experimentalfilm der merkwürdigsten Sorte - und gelingt dabei doch so leicht und unterhaltsam, dass er völlig zu Unrecht ein Geheimtip geblieben ist.

Guy Maddins Filmschaffen (er erhielt bereits im zarten Regiealter von 39 Jahren die Telluride Medal for Lifetime Achievement) ist nicht in einer filmischen Ausbildung begründet, sondern in seiner Verliebtheit in das frühe Kino. "Ich habe den Eindruck, dass der Stummfilm als künstlerische Form noch im Wachsen begriffen war, als ökonomische Gründe (die Nachfrage nach Tonfilmen) ihm ein vorzeitiges Ende bereiteten. Der Stummfilm hätte sich noch weiter entwickeln können, und ich fand es interessant, an genau diesem Punkt anzusetzen", sagt er selbst dazu.

So finden sich in Maddins Filmästhetik virtuos reproduzierte Elemente der frühesten Stummfilmzeit, des expressionistischen Kinos, des russischen Formalismus, des Surrealismus und des magischen Realismus sowohl in technischen Aspekten der Ausstattung, Fotografie, Montage und Tonspur, wie auch im Spiel der Darsteller. Guy Maddin wird ebenso mit Leni Riefenstahl, Friedrich Murnau und Fritz Lang verglichen, wie mit Luis Bunuel und David Lynch oder auch Ed Wood und dem einige Jahre jüngeren Michel Gondry. Doch all diese Vergleiche sind nur Hilfsmittel, um die Kunst Guy Maddins annähernd beschreiben zu können. Die Welten, die zwischen den genannten Filmschaffenden liegen, bringt Guy Maddin auf seine ganz eigene Art und Weise auf die Leinwand: eines der angenehmsten Phänomene der Postmoderne.

The Saddest Music in the World spielt, wie zahlreiche (Kurz-) Filme des Regisseurs, in seiner Heimatstadt Winnipeg, der kältesten englischsprachigen Stadt der Welt. Zur Zeit der Großen Depression fließt hier das Bier in Strömen und bewirkt eine seltsame Stimmung aus Weltschmerz und ausgelassenem Partysuff. Die beinamputierte Bierkönigin Lady Port-Huntley (Isabella Rosselini) ruft einen internationalen Wettstreit aus, bei dem die traurigste Musik der Welt gekührt werden soll. Aus aller Herren Länder reisen die Musiker an und geben ihr Traurigstes. Unter ihnen auch drei Personen, die tragischerweise mit Lady Port-Huntley verbunden sind: ihr Exgeliebter und Möchtegernimpresario Chester Kent (Mark McKinney) für Amerika, sein immernoch unsterblich in sie verliebter und für die Beinamputation verantwortlicher Vater Fyodor (David Fox) für Kanada und sein nach Serbien ausgewanderter Bruder Roderick für diese Wahlheimat. Wo Fyodor seine persönliche Traurigkeit aus der unerfüllten Liebe zur Lady schöpft und seine internationale Depression mit den sieglosen kanadischen Soldaten auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs begründet, besteht Rodericks unendlicher Gram im Tod seines Sohnes und seiner verzweifelten Suche nach seiner Frau, während seine künstlerische Äußerung auf dem Cello als "Der Große Gavrilo" sich auf den serbischen Attentäter bezieht, der den Ersten Weltkrieg auslöste und Millionen von Menschen das Leben kostete. Chester Kent hingegen, der völlig aalglatt und business-gemäß agiert, hat keinerlei Traurigkeit zu bieten und tut, was Amerikaner klischeehaft gut können: er inszeniert hervorragende Showacts, kauft z.B. mit Versprechungen Inder, die ihm Eskimos mimen sollen, womit er gleichzeitig ihre Konkurrenz im Wettbewerb eliminiert, und ist promt auf dem besten Weg, der Gewinner der Veranstaltung zu werden.

Allerdings ist alles noch wesentlich komplizierter und hier soll nun nicht der zum Scheitern verurteilte Versuch unternommen werden, zusammenzufassen, was The Saddest Music in the World erzählt. Der Film ist in jeder Sekunde voller Ideenreichtum, skurril, nostalgisch, melancholisch, hysterisch, märchenhaft, (schwarz-) humorvoll, neurotisch, psychopathologisch, aberwitzig und einfach hinreißend. Guy Maddin entführt in eine Welt, die ebenso windschief-pappmacheeartig wie auch real-eiskalt ist (bei den Dreharbeiten betrug es mitunter -40°C).

Bis auf einige Beerdigungsszenen ist der Film schwarz-weiß, grobkörnig, schlecht belichtet, rucklig und zittrig, am Bildrand unscharf. Mitunter hielten die Darsteller eine Super-8-Kamera in der einen Hand und filmten sich selbst. Die Montage ist rasant, einzelne Bilder erzählen ganze Handlungsstränge, raffen die Zeit in bester Citizen-Kane-Manier, setzen Pointen oder bieten pure Schönheit in Ausleuchtung und mis-en-scene. Die Fotografie ist einmalig und ein Genuss für Augen, denen das Herkömmliche und Standardisierte bereits über ist.

Guy Maddins Filmkunst ist wohl der schönste Gegenentwurf zum heutigen Kino und The Saddest Music in the World sollte gesehen werden - nicht nur von Cineasten, sondern überhaupt von Denjenigen, die wissen wollen, was mit Film alles möglich ist.

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