Obacht: Wer einen Blick auf „Tesis“ zu werfen wagt, wird selbst von ihm beobachtet. Und der Spiegel, den Alejandro Amenábar aufstellt, ist die reflektierende Linse einer Videokamera.
Unbeteiligt auf der Couch lümmeln und sich vom Gesehenen nicht bewegen zu lassen, ist beim Debüt des spanisch-chilenischen Regisseurs schon deswegen keine Option, weil es eine medientheoretische Abhandlung darstellt, in die man selbst effektiv einbezogen wird. Sie betrifft jeden, der sich generell mit Filmen befasst – was also per definitionem ausnahmslos das gesamte Publikum von „Tesis“ mit einbezieht, ja selbst Leser dieses Textes, der sich auf ihn bezieht.
Schon in der Prologsequenz, die den Suspense wie einen dunklen Schatten in die Gewöhnlichkeit des Alltags einarbeitet, wird ein verrohtes und pervertiertes Gesellschaftsbild gezeichnet und auf perfide Weise mit den Instinkten des Zuschauers gespielt. Der nämlich mag seine Nase rümpfen über die Schaulustigen, die sich um den von der Bahn zerteilten Selbstmörder versammeln; böte der Blickwinkel aber vor dem Schnitt noch einen kurzen Blick auf die Leiche, die wenigsten würden ihn wohl ausschlagen.
Die Theoretisierung des Mediums Film, die Amenábar für eine distanzierte Analyse des eigenen Handwerks benötigt, legt sich in diesem Fall im Setting einer Universität nieder. Der Horrorfilm wird zum wissenschaftlichen Gegenstand, den es unabhängig von persönlichen Gefühlen für eine Magisterarbeit zu analysieren gilt. Die Figuren sind sich ihrer Mittendrin-Funktion als Meta-Gefäß nicht so bewusst wie jene aus „Scream“, vielmehr suchen sie eine objektive Perspektive auf das Abgründige und müssen erst im Laufe der Entwicklungen mit Schrecken erleben, wie dieses Abgründige, in einem Moment noch graue Theorie, immer weiter in ihr echtes Leben vordringt. Der deutsche Film zog einige Jahre später mit „Anatomie“ nach, der in einem vergleichbaren Setting nach ähnlichen Mustern verfuhr.
Anders als „Anatomie“, der den Mustern des Slasherfilms stark verpflichtet ist, lässt sich „Tesis“ aber nur schwer anders kategorisieren als mit dem Sammelbegriff des Thrillers. Spezifischeren Kategorisierungsversuchen entzieht er sich alleine schon des Tabu-Themas wegen, das er behandelt. Es ist ein Film, der schichtweise das Grauen aufdeckt, das sich zuerst über kleine Indizien andeutet und schließlich zur großen Verschwörung reift, die sich mitten unter uns abspielt, in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft. Eine solche Dramaturgie wird in vielen Bereichen angewandt, oftmals in europäischen Produktionen; Ein Dario Argento nutzte sie in „Horror Infernal“ ebenso wie Mathieu Kassovitz in „Die purpurnen Flüsse“.
Entscheidend bei der Gesamtbetrachtung ist deswegen die örtliche und zeitliche Einordnung. Der spanische Horrorfilm legte seine Wurzeln in den 60er und 70er Jahren mit Horrorfilmen aus dem Fantasy-Bereich („La Marca Del Hombre Lobo“ und folgende Werwolffilme mit Paul Naschy), die im politisch-gesellschaftlichen Kontext als eskapistische Wege aus der Realität betrachtet werden konnten. Als das Franco-Regime in den letzten Zügen lag, wurden diese Kontexte jedoch bereits zunehmend in die Handlungen von Horror-Produktionen eingewoben, ein Muster, das bis heute geblieben ist. So arbeitete schon Serradors „La Residencia“ (1970) verstärkt mit Motiven der Repression; auch Del Toros „The Devil’s Backbone“ (2001) und „Pans Labyrinth“ (2006) griffen mit der Darstellung des spanischen Bürgerkriegs historische Ereignisse direkt auf und verwoben sie mit dem Phantastischen. Inzwischen ist der spanische Film hauptsächlich urbanen Geschichten verschrieben, die mit modernen Mitteln erzählt werden; allen voran mit der 2007 gestarteten Found-Footage-Reihe „[REC]“, in der die Videokamera schon der Machart wegen eine wichtige Rolle spielt.
„Tesis“ darf in dieser Hinsicht als einer der Vorreiter bezeichnet werden. Gedreht wurde er zu einer Zeit, da die DVD bereits erfunden, auf dem Markt aber noch nicht verbreitet war. VHS-Kassetten sind noch das bevorzugte Medium zur Verbreitung von Filmmaterial. Amenábar zeigt viele Szenen, in denen die klobigen Datenträger eine Reihe im Wandregal bilden, weitergereicht und abgespielt werden. Gestapelt in Universitätsarchiven oder in der Wohnung des freakigen Uni-Bekannten der Hauptdarstellerin, der die Outsiderin in die Welt des Gewaltfilms einführt, projiziert auf einen alten Röhrenfernseher oder die große Leinwand im Hörsaal: Die VHS ist in diesem Zeitdokument wahrhaftig noch am Leben, wenn auch unterhalb des Radars der Öffentlichkeit als eine Art Währung der Unterwelt, und sie prägt mit ihren Glitches und Bildverunreinigungen wesentlich den Look von „Tesis“. Die verwaschene Bildqualität der Videokassette hilft Amenábar dabei, die Gewalt zu verwischen, die er ohnehin durch schnellen Schnitt, scharfe Close-Ups und abrupte Schwenks kaum mehr als andeutet. Wer in Reaktion darauf nach mehr Blut verlangt, tritt prompt in die Falle und ist entlarvt. Das Konzept „Snuff“ bleibt indes ein Mysterium. Warum, beginnt jeder Versuch einer Auseinandersetzung mit dem Thema, warum sollte jemand so etwas Schreckliches tun? Und wer schaut sich so etwas an?
Der Demokratie, die sich in den Jahrzehnten nach der spanischen Diktatur ausgebildet hat, scheint Amenábar jedenfalls noch nicht so ganz zu trauen. Wenn im brillant konzipierten Krankenhaus-Finale die animalische Natur des Menschen aufdeckt und das Zivilisierte als trügerischer Schein entlarvt wird, verhält er sich konform gegenüber der zeitgenössischen spanischen Filmszene, die gerne nach Bruchstellen in der perfekten Oberfläche sucht und dazu auch gerne zur modernsten Technik greift. Nicht selten hat das Ganze mit Voyeurismus oder Überwachung zu tun, Themen, die auch in „Tesis“ omnipräsent sind und effektiv transportiert werden. In einer Traumsequenz gelingt Amenábar mit dem roten Auge der aufnehmenden Kamera zum Beispiel eine herausragende Komposition Hitchcock’scher Prägung, die den typischen Jump Scare jüngerer Gattung regelrecht vorführt.
Es soll nicht unterschlagen werden, dass man bei der Figurenzeichnung nicht umhin kam, zum Teil extreme Comic Reliefs einzubauen, um den unter dem Strich subversiven Umgang dem Thema zu gewährleisten. Chema (Fele Martinez) gehört zu den grundsätzlich interessantesten Figuren des Films, was wohl auch damit zu tun hat, dass er vom Regisseur trotz seiner Abgestumpftheit gegenüber pornografischen und gewalttätigen Inhalten nicht verurteilt wird (wenn er auch für die Enthüllung des wahren Psychopathen immer ein möglicher Kandidat bleibt). Der hagere, langhaarige, schwarze T-Shirts mit Horrorfilmmotiven tragende Einzelgänger bildet aber ein arges Klischee, seine düstere, mit allerhand Requisiten aus Horrorfilmen vollgestopfte Wohnung schießt dann endgültig über das Ziel hinaus. Dahingehend, dass sie sinnbildlich für den Übergang auf die dunkle Seite fungiert, erfüllt sie allerdings ihren Zweck. Ana Torrent bestreitet ihre Rolle ein wenig blass, was immer dann hilfreich ist, wenn sie ob der Gräuel auf dem Fernsehbildschirm von Übelkeit heimgesucht wird. Als es jedoch um ihr eigenes Leben geht, hätte man sich eine impulsivere Darstellerin gewünscht, die dazu in der Lage ist, die nackte Verzweiflung greifbar zu machen und ebenso intensive Emotionen gegenteiliger Art. Auch Eduardo Noriega als ominöser „Homme Fatal“ und Xabier Elorriaga als Professor bleiben Klischees ihrer jeweiligen Rollengattung und führen gerade den mit falschen Fährten ausgelegten Mittelteil tief in ausgewalzte Whodunit-Schemata.
Im Gesamten ist Alejandro Amenábar mit seinem ersten Film aber nicht nur ein packender Thriller gelungen, sondern auch eine komplexe Auseinandersetzung mit Gewalt in den Medien der 90er Jahre, die insbesondere im Aufbau und dann wieder im Finale auf ganzer Linie überzeugt – gerade hinsichtlich des Dilemmas zwischen Trieb und Vernunft, für das sich die Idee vom Snuff-Film als wertvolle Diskussionsgrundlage herausstellt.