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Alles beginnt ganz harmlos, dann gesellt sich eine gewisse Neurose und Schrulligkeit bei den Akteuren hinzu, über welche die Charakterzeichnung der Figuren erfolgt, bis eine überraschende Wendung unverhofft Spannung aufbaut und jene Abgründigkeit offenbart, die man zunächst nicht vermutet hätte. Die Rede ist hier nicht von den Werken Alfred Hitchcocks, sondern von einem eher unbekannten Film eines nach wie vor nur Insidern bekannten Filmemachers: Felicia, mein Engel und Regisseur Atom Egoyan.

Der zunächst an ein Drama um Einsamkeit und gescheiterte Liaison erinnernde Psychothriller kommt auf ganz leisen Sohlen daher. Eine lange Kamerafahrt stellt uns das Haus von Joe Hilditch (Bob Hoskins), einem „Kantinenmanager" (wie er seinen Job selbst beschreibt) vor, huscht zu ruhiger 60er-Jahre-Musik durch die vielen Räume, bis sie schließlich beim Eigentümer in der Küche beim Kochen verharrt. Joe kocht die Rezepte einer Kochshow nach, in welcher eine sympathische Frau mit französischem Akzent die Gerichte zubereitet. Diese Szenerie soll im weiteren Verlauf des Films Gegenstand dieser eingänglich beschriebenen überraschenden Wendung sein, die den Zuschauer frösteln lässt: Der zunächst manisch anmutende Koch, der jede Sendung der Kochshow zu Hause in der Abstellkammer gebunkert hat, erhält psychopathische Züge.

Der einsame Mann nimmt in seinem Auto immer wieder abgebrannte und im fremden Birmingham festsitzende, ahnungslose junge Frauen mit, denen er zunächst hilft, aber sie dann, wenn sie ihn wieder verlassen können und wollen, ermordet. Aus dem unscheinbaren, enorm hilfsbereiten, ruhigen Mann wird ein grausamer Psychopath, der seine Treffen mit den jungen Frauen allesamt auf Video festgehalten und archiviert hat, um seiner eigenen Einsamkeit zu entfliehen. Bob Hoskins gelingt es mit seiner eindringlichen Performance in dieser Rolle bis zu einem gewissen Punkt sogar Sympathie aufzubauen, wie es Fotograf Sy Parrish in One Hour Photo von Mark Romanek vermochte. Doch wo Robin Williams in dieser ähnlich angelegten Rolle durch seine Sehnsucht nach als selbstverständlichen angenommenen Bedürfnissen beinahe schon zu Tränen rührte, trägt Hoskins fernab seiner als Fassade dienenden Höflichkeit und Hilfsbereitschaft letztendlich nicht diese liebenswerten Züge. Diese Figur mit gestört-pathologischem Verhältnis zu seiner Mutter - was man durchaus als ferne Referenz an Psycho ansehen könnte - verstört gar durch ihr suizidales Ableben am Ende, welches angestoßen wird von religiösen Fanatikern, die etwas von weichendem Schmerz und der kommenden Heilung predigen. Hitchcock hätte so eine fadenscheinige Motivation, warum seine Figuren so handeln wie sie handeln, nicht gebraucht. Diese Unglaubwürdigkeit ist eine der wenigen Schwachstellen, die man Drehbuchautor Egoyan vorwerfen kann. 

Die naive Felicia (Elaine Cassidy), aus dem fernen Irland kommend, gerät nun an diesen warmherzig erscheinenden Psychopathen. Auf der Suche nach dem jungen und verantwortungslosen Vater Johnny (Peter McDonald) ihres noch ungeborenen Kindes, führen alle ihre Bemühungen, in England Kontakt mit ihm aufzunehmen ins Leere. Johnny, der britische Soldat, wird von Felicias konservativ gesinnten Vater als „Feind" verachtet, weil das britische Militär für den Tod einiger Familienmitglieder verantwortlich ist und das gestörte Verhältnis zu ihrem Vater - spiegelbildlich zu jenem zwischen Joe und seiner Mutter, die als Fernsehköchin mehr Verständnis für ihre Gerichte als für ihren vernachlässigten Sohn aufbrachte - führt schließlich dazu, dass Felicia ihrem Freund nachreist.

Zunächst ist das Verhältnis von Felicia und Joe durch zufällige Begegnungen geprägt, bevor Joe sich ihr annimmt und sich um sie kümmert - scheinbar auch darum, dass sie wieder mit ihren Freund in Kontakt treten kann. Dann steigert sich der Film zum stetig subtilen Psychothriller, den Egoyan meisterhaft spannend hält. Mit unvermittelten Rückblenden erfahren wir dabei etwas über die Vergangenheit dieser beiden Figuren. Die Musik spielt bei Felicia, mein Engel eine wichtige Rolle: über keltische Gesänge und ruhige 60er-Jahre-Evergreens aus Joes traumatischer Kindheit bekommen wir dominierend mal schiefe, mal dramatisierende Streicher zu hören, die den unterschwelligen, nie offensichtlichen Wahnsinn der Hauptfigur illustrieren, die darin gipfelt, dass Joe es schafft, Felicia zur Abtreibung zu raten und in sein Haus zu locken. Dort folgt wieder eine Referenz an Hitchcock: Er versetzt ihren Kakao mit einem starken Beruhigungsmittel und trägt dieses Getränk über eine Treppe zu ihr nach oben. Kenner von Hitchcocks Werken dürften sich an die berühmte Szene in Suspicion (dt.: Unter Verdacht) erinnert fühlen, wo Cary Grant ein vergiftetes Glas Milch die Stufen hinauf trägt.

Egoyan schafft es mit seiner subtilen Inszenierung nach Das süße Jenseits einmal mehr, ein intensives Drama zu inszenieren, das durchaus die Fragen stellt nach Einsamkeit und die seelischen Probleme, die sich unter der zunächst wenig ambivalent erscheinenden Oberfläche verbergen. Die Stimmung seines Films wirkt zunächst etwas unausgegoren zwischen Psychodrama und Psychothriller schwankend, ist aber letztendlich äußerst gelungen, da ihn nicht nur die Taten seiner Figuren, sondern abseits der Suspense deren Charakterzeichnung interessiert. Dass das Ende dabei etwas unbefriedigend ist, sei ihm großzügig vergeben. Hitchcock hätte - so mutmaße ich - jedenfalls seinen Spaß an diesem großartig-subtilen Film mit ausgezeichneten Darstellern gehabt (8/10). 

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