Review

Ein Licht in dunkler Nacht

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf - diese These hat sich bisher eindrucksvoll wie ein roter Faden durch das Werk des polarisierenden Autorenfilmers Haneke gezogen. Seine präzisen, radikalen aber durchaus moralisierenden Gesellschaftsanalysen, wie seine "Trilogie der Vergletscherung", oder "Funny Games", wurden geliebt und gehasst. Er war also immer im Gespräch, konnte mit seiner Kunst ernsthafte, zumal heftige Diskussionen anregen.
In "Wolfzeit" haben wir es mit einem weitaus fiktiveren Konstrukt zu tun, das gleichzeitig auch einen Höhepunkt in Hanekes Schaffen darstellt. Es ist ein Endzeitfilm, allerdings nicht so unterhaltend und einfach, wie "Mad Max" und Konsorten, sondern beklemmend realer und anspruchsvoller.

Nach dem für Haneke typischen, stillen, einfachst gehaltenen Vorspann, wo alle wichtigen Beteiligten weiß auf schwarz aufgelistet werden, ohne ein kleinstes Geräusch, sehen wir schlichte Bilder im Wald irgendwo in Frankreich. Eine Natur, wie man sie praktisch vor der Haustür hat. Ein Van fährt einen kleinen Weg entlang zu einer kleinen Ferienhütte. Die Familie (Vater, Mutter und 2 Kinder) steigt aus und betritt das Haus, als ihnen auf einmal jemand ein Gewehr vor die Nase hält. Verwirrung, Unklarheit. Der Vater versucht zu schlichten, aber dann fällt ein Schuss. Er ist tot. Die Mutter, brilliant gespielt von der Meisterin Isabelle Huppert, erbricht sich und flieht dann mit den Kindern. Knallhart und traumatisierend führt uns der Film in die bedrohliche Lage, doch die Kamera bleibt reaktionslos. In krude oder gar "primitiv" anmutenden, starren Bildern beobachtet die Kamera das Geschehen, erschütternd emotionslos. Das geht sogar so weit, dass in der Nacht auf jedwede Beleuchtung verzichtet wird und man zunächst nur schwarz sieht, als die Mutter aufwacht, um nach dem Jungen zu sehen. Nur ihr eigenes Feuerzeug dient als Licht, man sieht kaum etwas. Bilder auf das Grundlegenste reduziert, keine Bewegung, nur Hell-Dunkel, schaffen eine eigenartig beklemmende Atmosphäre, mehr als es die wackeligen Kameras z.B. in "Blair Witch" schaffen.

Auch am nächsten Tag scheint keine Erklärung für die ausgestorbene Gegend findbar. Ziellos, erschöpft und ängstlich irrt die Mutter mit den Kindern und ein wenig Habe umher, an zerfleischten Tieren, brennenden Herden und tot im Gras liegenden Menschen vorbei, die Bahngleise entlang. Schließlich kommen sie an einen alten Bahnhof und treffen andere Flüchtlinge, die dort verzweifelt auf einen Zug warten, den sie stoppen können. Die Lage bleibt weiterhin unklar, aber es ist von "Versorgungsproblemen im Land" die Rede und von einer Stadt, wo die Leute alle herzukommen scheinen. Die einzige Möglichkeit wegzukommen, ist der Zug. Doch der muss angehalten und die Fahrer bestochen werden. Die wenigen Flüchtlinge haben sich zu einer primitiven Gesellschaft zusammengeschlossen, die sich gegenseitig durch Tauschgeschäfte mehr recht als schlecht über die Runden bringt.

Endzeit im Hier und Jetzt? Man ist ratlos. Die Kamera auch, denn wie wertlos in die Ecke gestellt fängt sie bewegungslos die langen Tage des Festsitzens in der Einöde ein. Man fühlt sich seltsam zurückerinnert an die Kriegsbilder aus den Nachrichten, von den letzten Kriegen in Osteuropa. Konflikte und Streit entstehen unter den Flüchtlingen, keiner will sich unterordnen, Missverständnisse führen ständig zu beinahen Eskalationen. Die Kommunikation scheint einfach nicht zu funktionieren und die eisige, triste Atmosphäre ist beherrscht von Egoismus und Ignoranz. Die Probleme werden immer größer, als eine große Gruppe Flüchtlinge hinzukommt, unter denen auch der Mörder des Vaters vom Anfang ist. Hilflos nd verloren versucht sich nun jeder einzelne irgendwie in diesem Kampf ums Überleben zu behaupten. Wer nichts zu tauschen hat, bekommt kein Wasser. Wer die Waffen hat, sorgt für Ordnung. Es entsteht eine primitive Form von Gerechtigkeit und langsam wird klar, dass wir einen vergrößernden Spiegel sehen, von unserer Welt im Hier und Jetzt. Intoleranz, Ignoranz, Apathie, Egoismus und Materialismus prägen die primitiven Verhaltensweisen der scheinbar zivilisierten Leute. Die kühle Inszenierung erzeugt dabei eine beispiellose emotionale Wucht und erschütternde Intensität, manchmal auch einen verbitterten Sarkasmus. Eindrucksvoll ist etwa die Szene, als das Baby einer Familie tot ist. Man sieht nur die Beine der Flüchtlinge in der Wiese stehen und ein paar Hände, die ein Holzkreuz zusammenbinden und auf einen kleinen Erdhaufen legen. Die Kamera liegt minutenlang herum, es ertönt das schier unerträgliche, klägliche Gejammer der Mutter. Langsam gehen die anderen weg. Hier ist die große Kunst Michael Hanekes auch anzusetzen. Niemand außer ihm hat dies in solcher Form und Intensität vollbracht. Niemand hat außer ihm solch brilliante, präzise-kühle von einem tiefen Humanismus geprägten Analysen einer kaputten, unkommunikativen unpersönlichen Welt geschaffen. Die karge Darstellung von Missständen, Hoffnungslosigkeit und Leid bedarf nicht vieler Worte.

Nun kann man ihm vorwerfen, er sei ein eindimensionaler Moralist, und in gewisser Weise stimmt das sicherlich. Doch ist das noch kein Grund für Substanzlosigkeit, wie es ihm einige Kritiker vorwerfen. Haneke ist sich seiner Verantwortung als Künstler sehr bewusst und handelt als Kritiker konsequenter als die meisten anderen. Er entgegnet der Eindimensionalität des modernen Zeitgeists mit nicht minder drastischen Mitteln, ohne ein eventuell beruhigendes Gegenkonzept oder eine heile Welt anzubieten. Was wäre denn schließlich "Requiem for a Dream" mit Happy-End? Oder Michel Houellebecqs geniale Gesellschaftsromane mit Hoffnung? Sie würden ihre Brisanz und ihr Potential sofort verlieren.
Man muss Haneke ja nicht gleich als Erzieher auffassen. Sondern mehr als intelligenten Kommentator mit dem richtigen Blick. Seine Werke sind auch insofern eine Alternative zum "normalen" Kino, als es heute eh kaum noch moralisch-ethische Abhandlungen und Themen im Kino zu sehen gibt.

Und doch gibt es vielleicht gerade in diesem so düsteren Film ein Quentchen Hoffnung, eine offene Möglichkeit zur Versöhnung mit der kritisierten Gesellschaft? Das eindrucksvolle, bewegende Ende zeigt einen möglichen (radikalen?) Ausweg aus der Misere und lässt den traumatisierten Zuseher noch lange über das Gesehene nachdenken. Ich will es nicht verraten, aber es ist ein mutiger Schlusspunkt, der seine Ähnlichkeiten aufweist zu Tarkowskys sehr theoretischem Film "Opfer". Haneke ist also ein wirklich imposantes Filmexperiment gelungen, dass meiner Meinung nach keineswegs langatmig oder zäh ist, wenn man sich wirklich darauf einlässt und während des Zusehens die Inhalte im Geist reflektiert. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass "Wolfzeit" wohl den Höhepunkt von Hanekes Werk darstellt, in welchem er sein Potential voll entfaltet hat und sein artistisches Ziel adäquat umgesetzt hat. Es ist sozusagen der inoffizielle vierte Teil, das große Finale, die Perfektion, die Zusammenfassung und Erweiterung seiner genialen "Trilogie der Vergletscherung". 10/10.

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