Review

Martino dreht (wieder einmal) frei

 „Your Vice is a Locked Room and only I have the Key" (1972) ist der letzte Martino-Giallo auf meiner Liste. 


Mit „Der Schwanz des Skorpions" (1971) und „Der Killer von Wien" (1972) hat Martino zwei prototypische, aber auch sehr effektive Gialli geschaffen, die ich jedem Interessierten am Genre für den Einstieg empfehlen würde. 

„Die Farben der Nacht" (1972) bietet bereits eine deutliche Variation des Subgenres, die den Fokus auf eine skurrile Inszenierung und Dramaturgie setzt und die Ebene der Subjektivität mit Lust am Verwirren bespielt. 

„Torso" (1973) streckt die Fühler nach einer sehr gradlinigen Form des Erzählens aus, die oft als Tendenz Richtung Slasher beschrieben wird, wodurch dieser Film unter Horrorfilm-Fans einen besonders guten Ruf genießt.  

Man sieht: Martino vermied es, Erfolgsrezepte einfach zu wiederholen, auch wenn die Zeitfenster für Produktionen und die Welle des Subgenres kurz waren. Aber aus dieser Voraussetzungen schöpfen diese Filme gerade ihre Stärken.  


Die Ausgangssituation - Gruselszenen einer Ehe 

„Your Vice..." ist eine weitere Variation der Topoi, die das Subgenre prägen und hebt sich von den genannten Filmen abermals deutlich ab, auch wenn mit Anita Strindberg und Edwige Fenech zwei bekannte Darstellerinnen aus Martinos Filmen auftauchen.  

Dies liegt zunächst an einer gänzlich anderen Ausrichtung des Settings, die sich von urbanen Räumen oder mondänen Orten verabschiedet und ein sich im Verfall befindendes Landgut zum Ort des Geschehens macht und uns eingangs eine Aschenputtel-Geschichte präsentiert, die die Figur Irina (Anita Strindberg) als Opfer ihres sadistischen Mannes Oliviero (Luigi Pistilli) einführt. Dieser hat so einige Psycho-Macken und gibt das Bild eines scheiternden Schriftstellers, der unter einem Ödipuskomplex und einer Schreibblockade leidet und nur in sexuelle Erregung oder einen Schreibprozess zu kommen scheint, wenn er andere, allen voran seine Frau, quält.  

Bereits in der Eingangsszene lernen wir Oliviero als vollkommen narzisstisches Arschloch kennen, das vor einer Ansammlung von Hippies seine Frau zutiefst demütigt und seine schwarze Haushälterin rassistisch beleidigt und sexuell belästigt, was die anwesende Hippiebande mit dem (technisch extrem schlecht dargestellten) Singen eines Protestsongs gegen Rassenvorurteile beantwortet, was hier als kraftlose und leere Geste erscheint. Wie Martino die jungen Menschen hier charakterisiert, zeigt einen sehr zynischen Blickwinkel auf die zeitgenössische Bewegung, die hier als hedonistisch und opportunistisch erscheint, wenn sie ihre vorgeschobene Überzeugungen für die Nähe zum hochgestellten Künstler und eine Flasche Whisky verhökert. 

Ebenfalls in der Eingangsszene wird über das prominent ausgestellte Portrait der Mutter Olivieros, das sie in einem barocken Kleid und mit schwarzer Katze zeigt, eine Gruselfilm-Atmosphäre implementiert, die zum zentralen Element des Films wird, der so ganz klar mit dem im Kern je stets modernen Giallo bricht und sich stilistisch dem Schauerroman Edgar Allan Poes oder dem klassischen und zu dieser Zeit final auslaufenden Gothic-Horror der Marke Hammer zuwendet. Das altmodische Kleid wird damit erklärt, dass Olivieros Mutter Schauspielerin war, denn selbst für die Vorgängergeneration wäre das Kleid vollkommen anachronistisch. Dabei wird gleich noch die Gelegenheit genutzt und die ach so bewunderte Mutter wird durch eine Nebenbemerkung eines Gastes als gescheiterte Künstlerin beschrieben, die sich lediglich hochgeschlafen habe und so zu Ehr und Ruhm gelangt ist. 

Die Abwesenheit der Mutter scheint weder Oliviero noch dem Gebäude gutzutun, denn beide verfallen offensichtlich. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn scheint ganz besonderer Art gewesen zu sein, denn als Irina in Form einer Rache für die eingangs gezeigte Demütigung das besagte Kleid anzieht, reagiert Oliviero emotional überfordert, zunächst gewalttätig und dann sexuell erregt und Martino lässt es sich nicht nehmen, Strindbergs blanke Brüste aus dem Dekolleté rutschen zu lassen, nur damit so aufgeregt daran gesaugt werden kann. Da muss man dann auch nicht mehr viel interpretieren. 

Das Aussehen Irinas erinnert in einzelnen Szenen tatsächlich an Aschenputtel, denn auch ihre Kleidung ist teilweise sehr rückwärtsgewandt und wenn sie dann zwischen ihren geliebten weißen Tauben steht, verlieren wir jeden Kontakt zur filmischen Gegenwart. Und diesem Pfad folgend erwarten wir eine Befreiungsgeschichte, denn so kann es ja nicht weitergehen. 

Und so kommen wir zum Thema 


Morde und falsche Fährten - Sie müssen nun einmal sein 
(AB HIER: LEICHTE SPOILER)

Als man noch rätselt, wohin die Reise denn nun gehen soll, verlassen wir das dunkle Gemäuer und treffen auf das erste Mordopfer in einem vollkommen losgelösten Setting, das sich nur über die Figur Oliviero mit der Handlung verbindet. 

Das Opfer Fausta, Angestellte in einem Buchladen, war mit Oliviero verabredet und wird am Treffpunkt dann mit dem Messer gemeuchelt. Der Mord selbst ist hier schlichte und etwas billige Hausmannskost und nach einer gelungenen Hinführung hätte Martino genauso gut abblenden können.
Die Ausgangslage ist nun aber so eindeutig, dass man bereist vermutet, dass der offensichtlichste Verdächtige eventuell nicht der Mörder ist. 

Der zweite Mord an der Haushälterin findet eine gänzlich andere Ausgangslage, da er im Landhaus stattfindet und sie das Kleid der Mutter trägt. Der Mord selbst ist auch hier wieder mit plumpen blutigen Effekten angereichert. Und einmal mehr sehen wir bei einer Toten weitere Lebenszeichen, wenn sichtbar der blutverschmierte Hals noch im Mondlicht glänzend vor sich hin pulsiert. Ich halte es mittlerweile für Absicht. In keinem anderen Genre haben die Toten so viele Lebenszeichen von sich gegeben wie im Giallo. Oliviero macht hier aus Furcht vor der Verdächtigung seiner Person Irina zu seiner Komplizin und sie verstecken die Leiche einfach im Keller in einer Wand. Wofür hat man denn ein so altes Gemäuer? 

Der dritte Mord an einer kurzerhand eingeschobenen Prostituierten hat dann bis auf ein zufälliges Treffen keinerlei Bezug zu den Hauptfiguren und ihrem Drama. Hier zieht der Film eine große Parallele zu „Der Killer von Wien", in dem ebenfalls zufälligerweise ein Triebmörder sein Unwesen treibt, der mit seinen Taten lediglich von der Seitenlinie in den Film hereinspielt und nur ein Nebenplot ist.

Die vollkommen unterschiedlichen Ausgangslagen der Morde finden im Verlauf des Films so dann letztlich eine tatsächliche Entsprechung, wenngleich das Zufallsmoment doch wenig glaubwürdig erscheint. Aber im Giallo lauert halt hinter jeder Ecke ein triebhafter Frauenmörder. 


Edwige Fenech - Eine Gamechangerin 

Als dann mit Edwige Fenech die Figur Floriana eingeführt wird, nimmt der Film mit seiner zentralen Geschichte an Fahrt auf. Die unerwartet aufgeblühte Nichte ist ein ziemlich dünner Trick des Drehbuchs, eine neue Figur einzuführen. Allerdings fügt sich diese sehr gut in das bisherige Handlungsgerüst ein, denn sie wirkt quasi wie ein Katalysator für die verfahrene Lage und Fenech spielt sich zeitweise ins Zentrum. Zudem bringt sie als deutlich moderner ausgerichtete Figur frischen Wind in das Gothic-Setting und sie baut eine Beziehung zu einem Landburschen auf, sodass wir vollkommen unerwartet in den Genuss von recht ausführlichen Szenen eines Motocross-Rennens kommen. Überraschung! Das gilt auch für den inzestuösen Akt mit dem lieben Onkel. Überraschung!

Natürlich zieht Fenech auch wieder mehrmals blank und es kommt zu einer unerwartet unexploitativen Sexszene zwischen Floriana und Irina, die tatsächlich so etwas wie glaubhafte Sinnlichkeit erzeugt und quasi einen Befreiungsakt Irinas darstellt und die Erwartungen des Zuschauers, dass Irina sich endlich von dem sadistischen Oliviero befreit, nehmen Fahrt auf. Irina gewinnt an Zuversicht und entwickelt sich vom Opfer zur Antagonistin Olivieros, wodurch es zu anwachsenden Spannungen kommt, die Irina dazu bringen, der permanent anwesenden schwarzen Katze (!) ein Auge auszustechen (!) und letztlich dem mehr und mehr dem Wahnsinn verfallenden Oliviero den Gar aus zu machen.  
An dieser Stelle sei erwähnt, dass dieser Film 8 Jahre vor Kubricks ´"The Shining" erschien.


Ein Film mit zwei Richtungswechseln - Für Abwechslung ist gesorgt 

Gerade, als man eine Vorstellung davon bekommt, wie Martino seinen Film auflösen wird, schlägt er aber noch einen Haken und legt noch einen drauf, nachdem Ivan Rassimov schon aus dem Hut gezogen wurde. Das ist beachtlich, überraschend und natürlich arg überkonstruiert. Letztlich nutzt aber Martino konsequent das Subgenre mit seinen Wesenszügen, um Filme zu machen, die eben jeder für sich einzigartig sensationell sind. Und hier verquickt er mit dem Giallo als Kind des Zeitgeists und dem ja bereits vollkommen überholten Gothic-Horror zwei Subgenres, die sich quasi die Klinke in die Hand gaben, wodurch der Film formal schon einmal sehr interessant ist.   


Die technische Seite - Alles beim Alten 

Während Martino immer bemüht war, seinen Gialli inhaltlich etwas Neues hinzuzufügen, erweisen sie sich technisch als solide und zweckdienlich. Da wir hier einer objektiveren Perspektive folgen, lässt man Kamera- und Lichtspielereien wie in „Die Farben der Nacht" weg, die dort ja Ausdruck des psychologischen Zustands der Hauptfigur sein sollten und demnach sehr surreal waren.

Aber wir erhalten vom Stamm-Kameramann Giancarlo Ferrando gelungene Ausleuchtungen und Einstellungen, die Stimmungsvoll die einzelnen Szenen bebildern. Lediglich die konkreten Mordszenen fand ich weniger gelungen, was schon fast Absicht zu sein scheint. Die Musik von Bruno Nicolai ist über jeden Zweifel erhaben und offeriert uns einen gelungenen Score, der sich nicht allzu vordergründig gibt und so auch nicht im Ohr bleibt, die einzelnen Szenen aber passend unterstreicht. Ob er oder Morricone jemals schlechte Arbeiten abgeliefert haben?    


Fazit 

„Your Vice..." ist ein weiterer gelungener Giallo von Sergio Martino, der seine Vorliebe für Plottwists hier wieder einmal voll auslebt und vollkommen zu Recht als einer der Großen des Subgenres gilt. Da er technisch im Vergleich zu Argento und Bava weniger ausgeklügelt vorgeht, wird er gegenüber seinen Kollegen manchmal etwas vernachlässigt. Für mich bringt er das Subgenre aber von allen Regisseuren am ehesten auf den Punkt und ich schätze seine Art und seinen Ansatz, stets das Sensationelle in seine Filme einzubauen. Was er zusammen mit Ernesto Gastaldi geschaffen hat, ist für mich die Essenz des Giallos und führt die formale Umsetzung, die Argento im Vergleich deutlich mehr auf die Spitze getrieben hat, mit einer furiosen Narration zusammen. Dabei haben seine Werke immer den etwas rauen Charme des schnell produzierten Films, der spontan und scheinbar aus dem Handgelenk irrwitzige Ideen umsetzt, ohne sich selbst für ernste Kunst zu erklären oder gar um das Morgen scheren zu müssen. 

Denn da ist er ja bereits Schnee von gestern, der an der Kinokasse keinen mehr interessiert. 

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