Nachdem das erste Aufbegehren der Oldenburger 99€ Bewegung auf DVD nur etwas für reifere Charaktere war, die nicht gleich bei jedem Tiefschlag zu autoaggressiven Splatterszenen ausholen oder gar um professionelle psychologische Betreuung betteln, kann die auf ganz Europa ausgedehnte Fortsetzung durchaus mit einigen positiven Überraschungen aufwarten.
Der französische Beitrag zeigt einen anscheinend aus dem Maghreb stammenden Junggesellen Mitte Dreißig, der eines Morgens mit einer fixen Wahnvorstellung der Frau seiner Träume aufwacht, sie an einer U-Bahn Station wiederzuerkennen vermeint und sie auf Schritt und Tritt verfolgt. Jedesmal, wenn er sie ansprechen will, verwandelt sie sich in einen anderen Menschen. Seine Hatz nach der Liebe seines Lebens endet schwerverletzt vor einem Auto im Delirium. Er sieht sich selbst mit ihr verwundet in einer blutigen Umarmung. Tragfähige Storyline, aber nur mäßig in der Ausführung. 6 Punkte.
Der Beitrag aus Warschau führt mehrere Handlungsebenen zusammen und treibt von allen Filmen den höchsten Personalaufwand. Ein Parkplatzwächter bekommt nachts überraschend Besuch von einem Trupp kleinwüchsiger Menschen, die seinen Namen kennen. Sie sind auf der Suche nach einem neuen König und krönen ihn formlos, indem sie ihm einen Ring von zweifelhaftem Wert anstecken. Sein arbeitsloser Sohn sitzt am nächsten Morgen derweil bei seiner schwangeren Freundin und gibt vor sich einen Job suchen zu wollen, trifft sich in Wirklichkeit aber mit zwei Bekannten, von denen einer ein Plattenbauzuhälter, auf Polnisch „Alfons“ oder „Sutener“, ist. Als dann auch noch drei auswanderungswillige Skinheads auf den Plan treten und eine Bank überfallen wollen, startet der Film voll durch und es kommt zu spektakulär atemloser 99€ Action, die die einschlägig bekannten amerikanischen Standards natürlich vollkommen ignoriert. Nicht schlecht, aber ohne Storyboard und ziemlich wacklig gefilmt. 6 Punkte.
In Berlin konnte so ein Aufwand von Benjamin Quabeck nicht getrieben werden. Quabeck beschränkt sich hauptsächlich auf zwei Menschen in einem Auto, die sich langsam näherkommen, aber dann doch einer Beziehungskatastrophe entgegensteuern. Die Augen von Heike Makatsch avancieren dabei zu einem handlungstragenden Element. Nicht ohne Witz, aber vom Aufbau her etwas lahm und mit langweiligen Schnitt/Gegenschnitt Gesichtsmakros überfrachtet . 5 Punkte.
Stephan Wagner aus Wien zeigt seine ALTE WÄSCHE und befasst sich dezent mit den Berufs- und Beziehungsperspektiven eines Architekturstudenten aus Deutschland. Nach längerer Zeit zieht es ihn während eines unfreiwilligen Flughafenaufenthalts widerwillig zurück an die Stätte seiner einstigen heißen Liebesnächte. In einer Rückblende erlebt er den Anfang seiner Beziehung bei einem Autounfall mit Bagatellschaden. Wir sehen das frisch bekanntgewordene Paar in einer brünstigen Umarmung bei der Schadensregulierung. Doch da kommt schon seine skeptische Stimme aus dem Off und spricht von der „richtigen Frau am falschen Ort“. Schon bald sind wir Zeuge eines tiefen Zerwürfnisses. Er als Berliner kann oder darf in Wien nicht als Architekt arbeiten. Sie als Volksschullehrerin bekommt bei dem Gedanken an einen eventuellen Umzug nach Berlin einen cholerischen Schreikrampf. Die Beziehung geht in die Brüche. Der Herr Architekturstudent bekommt seinen Koffer mit der alten Wäsche nachgeschmissen, worauf sich einige der Plurren dekorativ in der Baumkrone vorm Liebesnest verfangen. Es sind diese alten Kleidungsstücke, die er bei seiner reminiszenten Stippvisite wiedererkennt. Hinter der Wohnungstür seiner ehemaligen Flamme hört er ein Baby schreien und eine fremde Männerstimme. Er, der Beziehungsnostalgiker räumt endgültig desillusioniert das Feld. Ansprechende Story in verbesserungswürdiger Inszenierung. 5 Punkte.
Aus Antwerpen hat sich ein mit allerlei sonderbaren Hintergrundgeräuschen aufgepepptes Schminkvideo in die 99€ Rolle verirrt. Null Handlung in ruhigen Makroaufnahmen mit einem Zähneblecken als Schlussgag. Na ja ! 3 Punkte.
Die Musikerin Ellen ten Damme ließ sich in Amsterdam von den Reizen eines Skinsuits blenden und schickte einen einsamen Herrn, gespielt von Mark Schloten, in einem solchen auf die nächstbeste Kirmes, um dort die Frau für’s Leben zu suchen und schließlich auch zu finden. Natürlich trägt auch die Heißersehnte solch einen zum Nackedei veredelnden Skinsuit. Die platte Moral von der Geschicht: Gleich zu gleich gesellt sich gern... 4 Punkte.
Als ‘besonders delikat’ erweist sich rückblickend, dass der Londoner Richard Stanley in der teuersten Stadt Europas ebenfalls mit 99€ klarkommen musste. Das Leben ist eben nicht frei von Härten... Stanley, offenbar ein alteingesessener Fan von Zombiefilmen, backt in seinem Beitrag mal wieder am Mürbchen von der Stadt unter der Stadt und ihren unheimlichen Bewohnern, die man einfach so abknallen darf. Erbärmliches Niveau in phasenweise stimmungsvollen Farbfilterbildern. 3 Punkte.
Nacho Cerdà gewann in Barcelona mit der Charakterdarstellerin Laura Sole Albors auch eine sehr fähige Drehbuchautorin und schuf mit LAS OLAS eine suspenselastige, biografische Studie, die von der Hauptdarstellerin im Stil eines inneren Monologs erzählt wird. Hier stimmt fast alles. Höchstens, dass die eine oder andere Szene etwas zu steril und statisch wirkt. Aber die Investition in eine professionelle Digitalkamera hat sich sicherlich gelohnt. Wirklich packend und aus meiner Sicht ein sicherer Kandidat für ein höheres Budget ! 7 Punkte.
Die Internationalisierung des Festivals hat sich somit bewährt.