Der König ist tot.
Lang lebe der König.
Der Gangsterfilm der Gegenwart hat es schwer. Nicht etwa in dem Vorhaben, den Zuschauer zu unterhalten. Nein, ein beachtlicher Teil der modernen Kinogänger liebt die Mechanismen des Gangsterfilms.
Das Problem liegt woanders: seit etwas mehr als einem Jahrzehnt ist es schier unmöglich, das Genre neu zu definieren. Der gewaltige Schatten von Quentin Tarantinos Epos “Pulp Fiction” thront über der Filmwelt. Wer den Durchbruch des Kultregisseurs mit angesehen hat, kann gar nicht anders, als ihn in sein eigenes Werk einfließen zu lassen. “Pulp Fiction” ist wie der versteinernde Blick der Medusa: einmal kurz hingesehen, kann man sich der Wirkung nicht mehr entziehen. Eine Neuinterpretation des Genres wäre in dieser Zeit daher nur von jemandem zu erwarten, der das Standardwerk genauso wenig kennt wie seine Ableger. Aber mal ehrlich: wer zum Teufel hätte die Eier, sich hinzustellen und zu sagen: “Ich kenne Tarantino nicht, aber ich drehe jetzt einen Gangsterfilm.”?
Ganz genau.
Alles andere als verwunderlich ist es nun, dass “Gangster No.1" ein verdammt unterhaltsames Stück Film geworden ist. Die Briten pflegen überhaupt eine ausgeprägte Affinität zu Filmen, die zumindest in die Richtung von Paul McGuigans Genrebeitrag gehen: Slums, Farbfilter, Gossensprache, regionale Dialekte, Hochfrequenzschnitte, 60er-Jahre-Musik, Waffen, Autos, Zeitlupen, Zeitraffer, Monologe, Anzüge, Dreck, Blut, Gewalt. Guy Ritchies nahezu perfekte Klone “Lock, Stock & Two Smoking Barrels” und “Snatch” setzten neue Maßstäbe für das britische Kino, der etwas überschätzte “The 51st State” folgte dem Konzept mit Konsequenz, genauso wie “Sexy Beast”.
Nun also überrascht uns der zu diesem Zeitpunkt noch recht unerfahrene Paul McGuigan mit seinem Zweitling, der rein handwerklich in Sachen Abgedrehtheit Guy Ritchie in nichts nachsteht. Immerhin konnte er schon in seinem Debüt “The Acid House” üben, wie man auf Pulp-Fiction-Manier drei separate Handlungsstränge miteinander verknüpft. Dabei ist zu erwähnen, dass zumindest einer dieser Handlungsstränge sich um Drogen drehte, was uns unweigerlich zu Danny Boyles “Trainspotting” führt. Und tatsächlich ist in “Gangster No. 1" auch ein Einfluss aus dieser Richtung zu erahnen; wenn auch nicht thematisch, sondern nur stilistisch.
Als Zuschauer muss man sich nun zunächst einmal in dem Gewirr aus schrägen Charakteren, farbgefilterten Bildern, unkonventionellen Schnitten, Off-Kommentar und Gegenstandssymbolik zurechtfinden. Wir sehen einen höchst comichaft agierenden Malcolm McDowell, in einem feinen Anzug steckend, Champagner schlürfend und einer Boxveranstaltung zusehend. Durch schnelle Schnitte wird McDowell beim Trinken des Champagners unmittelbar an das Bild des spuckenden Boxers montiert. Seine Tischkollegen unterhalten sich grunzend und entblößen listige Schweinsäuglein und spitze Zahnreihen, während sie von feinstem Porzellan essen und hochwertige Kristallgläser in der Hand halten. McDowell geht in die Toilette und stellt sein Glas genau neben dem Pissoir ab. Als er es wieder aufhebt und schon zum Trinken ansetzt, schaut er uns tief in die Augen und sagt: “Wofür haltet ihr mich? Für ein Arschloch?”. Er lacht hämisch, stülpt seinen Zigarrenstümmel in das Champagnerglas und geht wieder zurück an seinen Tisch.
Die Marschrichtung wird schon hier vorgegeben: der Humor ist beinahe satirisch, die scheinbar makellose Welt der Reichen hat deutlich Dreck am Stecken, zeigt dunkle Abgründe hinter einer gelackten Fassade.
Was dann jedoch geschieht, ist in der Form nicht zu erahnen: “Gangster No.1" orientiert sich plötzlich an “Es war einmal in Amerika” und vor allem an “Scarface”, was die Struktur betrifft. In Hinblick auf die Filme von Tarantino, Ritchie oder Boyle, die man in den ersten Filmminuten eindeutig als zentrale Vorbilder identifiziert hatte, überrascht McGuigans Entscheidung, eine komplette Periode aus dem Leben eines Mannes zu erzählen, einen ganzen Zeitstrahl aus der Chronologie eines Mannes aufzuführen, um darin hin- und herzuspringen. Tarantino bemühte stets die Hermeneutik, indem er einzelne Szenen losgelöst von ihrem zeitlichen Ablauf durcheinanderwürfelte, doch blieb er dabei immer in einer überschaubaren Zeitperiode. Durch diese Struktur erlebt der Zuschauer eine Entwicklung, denn die Diskussion zwischen Pumpkin und Honeybunny zu Beginn von “Pulp Fiction” wirkt vollkommen anders als die Belehrung durch Jules Winnfield am Ende. McGuigan übernimmt diese Hermeneutik nun zwar auch, denn er beginnt mit einer Szene aus der Gegenwart und geht dann zurück in die Vergangenheit, um letztendlich wieder in der Gegenwart zu enden. Jedoch tut er dies über einen viel größeren Zeitraum, was einen vollkommen anderen Effekt zur Folge hat.
Die Entscheidung, einen kompletten Lebensabschnitt des Hauptdarstellers zu beleuchten, ist in Hinblick auf den Plot sicherlich nachvollziehbar. Die erzählerische (nicht jedoch stilistische) Abnabelung von “Pulp Fiction” hat aber nun zur Folge, dass man sich direkt in die Arme des nächsten Klassikers begibt, sozusagen “vom Regen in die Traufe”. Und nun stellt sich heraus, dass der Vergleich mit “Scarface” noch viel unglücklicher ausfällt. Konnte man zuvor trotz deutlicher Anleihen immerhin mit eigenen skurrilen Figuren und abgedrehten Dialogen aufwarten, womit “Gangster No.1" ganz klar dienen kann, muss man sich nun mit der Epik eines De Palma messen. Und “Scarface” schluckt den kleinen britischen Gangsterfilm mühelos. Ganz zu schweigen von Leones “Es war einmal in Amerika”, denn das Finale von “Gangster No.1" erinnert deutlich an den Abschluss der Amerika-Trilogie. Weitaus prägnanter sind glücklicherweise die Parallelen “nur” zu “Scarface”, denn die von Saffron Burrows gespielte Nachtclubsängerin Karen komplettiert die Beziehung zwischen Boss Freddie Mays (David Thewlis) und Gangster No.55 (Paul Bettany) zu einem Beziehungsdreieck, wie es fast 1:1 schon zwischen Michelle Pfeiffer, Al Pacino und Robert Loggia vorkam. Und bei diesen unübersehbaren Parallelen muss man beinahe von Plagiat sprechen. McGuigans Film zieht hier eindeutig den Kürzeren: erstens, weil es sich hier um einen eher kleineren Film handelt; zweitens, weil der Spannungsbogen nicht die notwendige Intensität aufweist; und drittens, weil der schwarzhumorige Gangsterfilm-Ansatz sich nicht mit der Epik des Aufstiegs und Falls eines Königs vereinbaren lässt.
Der König ist tot.
Lang lebe der König.
Dabei kann man McGuigan rein inszenatorisch wie gesagt keine Vorwürfe machen, denn seine Regie ist spritzig und dynamisch, wartet immer wieder mit visuellen Überraschungen auf. Im Gegensatz zu manch anderem Experimentalisten machen seine stilistischen Einwürfe auch immer Sinn und unterstützen die Aussage. Das betrifft gerade die Dialoge, denn gerade die haben bei Tarantino-Nacheiferern nicht selten selbstzweckhafte Qualität und entpuppen sich als sinnleeres Pseudo-Gehabe. Nicht so hier: ausgehend vom Prolog bei der Boxveranstaltung folgen sämtliche Wortaustausche der Geschichte. Auf ein gepflegtes “verdammte Scheiße” wird zwar auch hier nicht verzichtet, doch ist es nie unpassend, wobei natürlich andererseits niemals die simple Genialität eines Winnfield/Vega-Dialogs erreicht wird. Trotzdem - speziell an den Monologen des intensiv geführten Off-Kommentars kann man sich nicht satthören. Im Englischen den klassischen “Snatch”-Slang versprühend, legt sich im Deutschen ein verdammt guter Wolfgang Condrus (deutsche Synchronstimme von Sam Neill) ins Zeug, der ja schon seinen Teil dazu beigetragen hat, dass bei “Oldboy” endlich mal ein Film des Asia-Kinos mit einer guten deutschen Synchro gesegnet wurde.
Was ansonsten auffällt, ist damit einhergehend die enorme Detailversessenheit, die sich eben in den Kopfmonologen des Hauptdarstellers ausbreitet. Wenn Gangster No.55 seinen Boss mustert, ist bereits ein weiteres Vorbild identifiziert, und zwar “American Psycho” von Bret Easton Ellis. Dessen Parabel auf die Yuppie-Gesellschaft der 80er Jahre und deren belangloser Oberflächlichkeit baut sich durch die detailverliebte Musterung des Anzuges von David Thewlis ebenso ein wie durch die anfängliche Szenerie, in der das Missverhältnis von hochdekorierter Gesellschaft und niederen Instinkten verdeutlicht wird. Unser Protagonist, anfänglich in seinen Verhaltensweisen noch mehrdeutig und dem Zuschauer zur Interpretation freigelegt, entpuppt sich also langsam als Psycho. Und - man ahnt es kaum - hier baut McGuigan seine nächste Parallele ein. Mitunter bricht nämlich gar David Lynch durch, wenn Paul Bettany ohne erkennbaren Grund sein Gesicht zu einem stummen Schrei verzerrt, oder wenn er bizarrerweise den Afro seines Partners streichelt.
Das wichtigste Werkzeug des Regisseurs sind dann auch die Schauspieler, und da konnte sich McGuigan im Rahmen des britischen Kinos kaum eine bessere Riege vorstellen. Paul Bettany gibt die vielleicht beste Vorstellung seiner Karriere. Man nimmt ihm den Wandel vom ängstlichen Handlanger zum Gangster No. 1 mühelos ab, und die Wirkung seiner Figur wird lediglich durch den schwachen Storybogen gemindert, nicht jedoch durch seine Darstellung. Anzumerken ist, dass er sich keineswegs an der bahnbrechenden Performance von Al Pacino (als Tony Montana) orientiert, sondern seinen eigenen Weg verfolgt.
Auch David Thewlis war nur selten besser, strotzt er doch nur so vor Eleganz und gibt dem Gangsterboss gleichermaßen ein professionelles wie menschliches Gesicht. Auch hier wäre wieder mehr drin gewesen, aber wiederum nur durch den Plot bedingt.
Bei Malcolm McDowell ist es zunächst fraglich, weshalb man ihn als älteres Pendant zu Paul Bettany ausgewählt hat, wo alle anderen Akteure doch zum Zwecke des Alterns in die Maske geschickt wurden. Möglicherweise soll damit der Grund für den Untergang der Figur verdeutlicht werden, der wie schon bei “Scarface” in der Persönlichkeitsveränderung zu finden ist. Und so ist ist der “Gangster No.1" tatsächlich nur noch das satirisch verzerrte Restprodukt des jungen “Gangster No.55", gezeichnet von der Zeit und verloren in der bitteren Ironie seines Lebens.
Unter dem Strich ist “Gangster No.1" ein ambitioniertes Produkt mit frischer Regie und unterhaltsamer Story, das sich jedoch als Mosaik aus Versatzstücken der Vorbilder entpuppt. Mit etwas Bösartigkeit könnte man behaupten: “Gangster No.1" ist ein Nachahmer von “Snatch” ist ein Nachahmer von “Pulp Fiction” - und damit wäre er nur noch ein wertloses Zitat aus zweiter Hand. Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Der Regisseur bemüht sich, seinen Gangsterfilm durch die Betrachtung einer ganzen Periode zu einem Epos zu machen und damit über den Handlungsumfang von “Pulp Fiction” hinauszugehen. Das führt ihn jedoch direkt zu “Es war einmal in Amerika” und “Scarface”, womit er sich nun einer zweiten Gruppe aus Vergleichsfilmen ausgesetzt sieht und obendrein noch mit der Diskrepanz zwischen dem epischen Plot und der schwarzhumorigen Inszenierung kämpfen muss.
Dem entgegen wirken hervorragende Schauspieler, gute inszenatorische Einfälle und Dialoge, denen man ob ihrer Originalität nur allzu gerne folgt, womit Paul McGuigans zweitem Film das Prädikat “sehenswert” unbedingt anhaftet.
Lang lebe
Der König
Ist tot.
Lang lebe er.
Diese Kritik erscheint auch bei www.filmbesprechungen.de