Bergmanns psychologisches Kammerspiel
Ingmar Bergmann, einer der großen Künstler des (Autoren)Kinos, beschäftigt sich im Film "Das Schweigen" mit einem zerrüttelten Verhältnis einer todkranken Frau, Esther, und ihrer Schwester Anna. Typisch für ihn beginnt alles eher belanglos, nüchtern und ruhig, als die beiden Frauen und Annas Sohn per Zug in ein fiktives, fremdes Land fahren. Ihr Ziel sind die Großeltern, doch sie müssen in einem Hotel absteigen, da Esthers Lungenkrankheit sich verschlimmert. In diesem seltsam fremd anmutenden, anonymen, verwinkelten Gebäude offenbart sich der seelische Konflikt der beiden so grundverschiedenen Persönlichkeiten und bringt sie beide bis zur Verzweiflung.
Tiefe seelische Abgründe tun sich dabei auf, Abgründe von Unverständnis, Hass, Einsamkeit, Liebe, Sexualität und der Sehnsucht danach. Aus dem belanglosen Melodram wird schnell ein intensiver, schmerzhaft ehrlicher Seelenstrip. Der Streit, das Misstrauen treibt die Schwestern zunehmends auseinander, ja gegeneinander. Während es bei Anna eine Art Sehnsucht nach Genugtuung (sei es auch auf sexueller Ebene), Rache ist, die ihren Hass auf Esther schürt, so geht es bei dieser um schwierigere, existentiellere Beweggründe.
Währenddessen geht der Junge ständig auf Entdeckungsreise durch die unbekannte Gebäudewelt, Anna lässt sich auf heiße, anonyme Liebesaffären ein.
Bergmann konzentriert sich, wie erwartet, voll und ganz auf die seelischen Entwicklungen seiner Charaktere. In den ästhetischen, nahen Gesichtsaufnahmen zeigt Bergmann in geradezu epischer Breite die Gemütszustände seiner Protagonisten. Blicke werden zu stillen Erzählern der tragischen Geschichte, die Kamera versinkt scheinbar völlig in ihnen und wird dabei schonungslos intim, zeigt die zwei Frauen auch, wenn sie am verletzbarsten, einsamsten sind. Der Rest der Umgebung fristet sein Dasein im Halbschatten. Die verwinkelten, teilweise dunklen Ecken und Enden des Hotels wirken wie eine Kulisse für einen Film Noir, wie auch die leidenschaftlichen Liebesszenen in geheimnisvoller, fast völliger Dunkelheit stattfinden. Tristesse und Leere regieren Kulisse, Gestaltung und Handlung und lenken den Blick des Betrachters auf den Kern der Geschichte.
Für Cineasten, die sich mit dem Kunstbegriff Film im dramaturgischen, sowie ästhetischen Sinne auseinandersetzen, ist der Film als ein typischer Bergmann sehr interessant. Die Geduld, die man am harmlosen Anfang aufbringen muss, wird belohnt durch kunstvolle Schwarzweißfotografie und eine intensive, nachdenkliche Schilderung von seelischen Abgründen und innerer Zerrissenheit. "Das Schweigen", sowie auch die anderen Filme des Regisseurs, sind noch immer einzigartige, jedoch nur schwer zugängliche Kunstwerke des Films, die sich, wie ich finde, einer Bewertung entziehen. Nicht umsonst steht der Name Ingmar Bergmann in jeder guten Chronologie des Kinos.