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Ein - wie sollte es anders sein? - stinknormaler Bürger, Richard Hannay (ein treffend besetzter Robert Donat), wird der Ermordung einer Geheimagentin beschuldigt und muss fliehen, um einerseits den ihn aufgrund seiner Mitwisserschaft verfolgenden Killern zu entkommen und andererseits seine Unschuld zu beweisen. Seine „Reise“ führt ihn nach Schottland, wo er - den vagen Informationen, die er kurz vor ihrem Tod von der toten Agentin erhalten hatte, nämlich dass feindliche Spione eine Formel außer Land befördern wollen, folgend - nach Anhaltspunkten sucht...

Was Hitchcock an diesem Film so gefiel, waren, wie er Truffaut und Peter Bogdanovich verriet, die Schlag auf Schlag folgenden und nicht selten lebensgefährlichen Situationen, in die der Held hineinstolpert und die ihm kaum Luft zum Atmen lassen. Er eilt von Schauplatz zu Schauplatz, seine Verfolger ihm dicht auf den Fersen: Mal wird er von ihnen gefasst, doch stets entkommt er, egal wie aussichtslos seine Lage auch ist. In der zweiten Hälfte des Films zum Beispiel stürzt Hannay schnurstracks in eine Party, deren Veranstalter sich zu seiner gesteigerten Überraschung als Kopf der „bösen“ Spionageorganisation entpuppt. Von dort aus kann er sich durch glückliche Umstände davonstehlen und sich anschließend an die örtliche Polizei wenden, die ihm aber nicht glaubt und ihn festnehmen will. Wieder gelingt ihm die Flucht. Sein Weg jedoch führt ihn versehentlich unmittelbar in eine politische Versammlung, wo er für einen der Redner gehalten wird und referieren muss, ohne zu wissen, was die Audienz von ihm hören möchte. Daraufhin wird er erneut von zwei Polizisten geschnappt, die wiederum nicht das sind, wofür sie sich ausgeben. Das geschieht in vielleicht zehn Minuten, rauscht in ICE-Geschwindigkeit an uns vorbei, ohne Ruhepause, alles hintereinander weg. Mit dem heutigen Action-Kino kann „Die 39 Stufen“ nicht mehr ansatzweise mithalten, dennoch fällt es zumindest beim ersten Anschauen schwer, der grenzenlosen Unlogik, die sich quer durch den Film zieht, auf die Schliche zu kommen. Beispielhaft sei bloß der Mord an der Agentin festgehalten, der erstens technisch völlig unmöglich ist und zweitens unvorstellbar stümperhaft durchgeführt wird. So wie hier würde im wirklichen Leben wohl nie ein Auftragsmörder vorgehen. Auch in den Folgejahren sollte Hitchcock bei seinen Storys wenig Wert auf Logik legen. Durch diverse Ablenkungsmanöver, indem er Aktion auf Aktion geschehen lässt, verstand er es allerdings wie wohl kein Zweiter sehr häufig überaus geschickt, die Unwahrscheinlichkeiten bestmöglich zu übertünchen. So eben auch hier.

Neben dem unschuldig Verdächtigten kann der aufmerksame Beobachter des Hitchcockschen Filmuniversums außerdem zwei weitere, später bei den Werken des Regisseurs immer und immer wieder auftauchende Motive entdecken. Zum einen den MacGuffin: Das ist eine Sache, von der die handelnden Figuren ununterbrochen sprechen und/oder hinter der diese her sind, eine Sache, die das Geschehen ins Rollen bringt und letztendlich doch ohne jede Bedeutung bleibt. In diesem Fall ist der MacGuffin eine Formel, Flugmotoren betreffend. Die erweist sich allerdings als völlig nebensächlich für „Die 39 Stufen“. Was Hitchock in den Mittelpunkt stellt, sind Hannays gnadenloses Gehetze durch ganz Großbritannien und die Frage, wie er seinen Verfolgern entkommen kann. Die Formel verkommt fast zur Bedeutungslosigkeit und wird erst in den allerletzten Sekunden, als der Film sozusagen schon zu Ende ist, gegenüber Hannay und dem Zuschauer enthüllt. Das andere Motiv stellt die atemberaubend attraktive Blondine dar. Wer sich eingehender mit der Person Hitchcock beschäftigt hat, weiß, dass er im Laufe seiner Karriere eine Vorliebe für diesen Typus Frau entwickelte und sich nicht selten in seine Hauptdarstellerinnen verliebte. In Gestalt von Madeleine Carroll (Figurenname Pamela) mischt auch hier eine solche mit, freilich noch nicht so geheimnisvoll wie so manche andere in den späteren Agententhrillern, sondern als erst unfreiwillige und widerspenstige, bald darauf treue Begleiterin des Helden.

So haarsträubend der Plot an sich sich auch entwickeln mag, so unbestritten proppevoll gepackt ist „Die 39 Stufen“ mit diesen kleinen unverwechselbaren Hitchcock-Extras. Vom Chef des Spionagerings etwa hat Hannay von der Agentin nur erfahren, dass ihm ein Stück seines kleinen Fingers fehlt. Als er dies nun offenherzig einem vermeintlich vertrauensvollen Mann auf die Nase bindet, fragt der ihn, im normalen, Interesse heuchelnden Tonfall gesprochen: „Meinen Sie zufällig die rechte Hand?“ Unmittelbar danach hält der Mann seine rechte Hand hoch, so dass Hannay sie sehen kann - der kleine Finger ist nicht vollständig, womit mit einem Mal klar ist: Er ist der besagte Chef. Ist das schon überraschend genug, feuert er - immerhin weiß sein Gegenüber zuviel - einen Schuss auf Hannay ab, worauf dieser zusammenbricht. Sekunden fragen wir uns, ob Hitchcock es tatsächlich wagt, den Hauptdarsteller einfach in der Mitte des Films sterben zu lassen, bis er eine Szene später quicklebendig im Polizeirevier sitzt. Wie ist das möglich? Wir erfahren es prompt im Nachhinein: Die Kugel traf nicht wie erwartet ins Herz, sondern mitten in das Gesangsbuch, das in Hannays Mantel steckte, den er auf einer Zwischenstation auf einem Bauernhof von einer Frau geschenkt bekam, weil sie ihn vor der Kälte schützen wollte. Glück im Unglück für Hannay und zugleich ein herrlich gelungener Versuch Hitchcocks, uns hinters Licht zu führen.

Frei von Schwächen ist „Die 39 Stufen“ trotzdem nicht; sie offenbaren sich nach „The Man Who Knew Too Much“ abermals im Spannungssektor. In der Hinsicht hat der Film noch mehr Verluste einzustecken als der Vorgänger. Obwohl noch temporeicher, lässt er memorable Momente vollends vermissen - und was noch schwerer wiegt: Er bietet noch nicht mal ein richtiges Finale. Ausgerechnet im großen letzten Akt, im Genre normalerweise der Höhepunkt, befindet sich die Hauptfigur nicht mehr in Lebensgefahr. Klug wird da der Kreis geschlossen, indem sich das Geschehen wieder an den Schauplatz der Eröffnungssequenz verlagert, auf einen schön aufregenden Showdown à la Mount Rushmore (oder wie in Don Sharps erst kürzlich wieder von mir besichtigten, guten, wenn nicht sogar besseren 78er Remake, in dem der Held in schwindeliger Höhe an den Kirchturmuhrzeigern von Big Ben hängt, um ein Attentat zu verhindern) wartet man aber vergebens, stattdessen legt sich plötzlich der „Ende“-Schriftzug über das Bild, ohne dass der Zuschauer befriedigt aus der Handlung entlassen worden wäre. Eine gewisse Enttäuschung konnte ich mir, nach dem, was ich vorher so alles Positives von dem Film gehört hatte, nicht verkneifen. Auf der Negativseite kommt - nicht sonderlich störend - außerdem hinzu, dass „Die 39 Stufen“ über einen etwas zu stark ausgeprägten episodenhaften Charakter verfügt, so dass die Handlung teilweise sehr ruck- und sprungartig vorangetrieben wird, sich nicht vollständig zu einem runden Ganzen zusammenfügen lassen will.

Am Ende bleibt ein zwiespältiges Gefühl. Ich anerkenne den Klassiker-Status, denn der Thriller ist schwungvoll und kommt gänzlich ohne Längen aus. Allerdings nagen sichtlich die Zeichen der Zeit (runde siebzig ist er ja auch schon) an ihm und Hitchcock hatte hier noch nicht die finanziellen Möglichkeiten wie in Hollywood, etwas wirklich Spektakuläres auf die Beine zu stellen. Seine höher budgetierten US-Filme „Saboteure“ (1942) und natürlich vor allem „Der unsichtbare Dritte“ (1959), die im Grunde - von einigen inhaltlichen und nicht gravierenden Abweichungen abgesehen - eine beinah identische Ausgangslage und Thematik behandeln wie dieser frühe britische Thriller und folglich als Fast-Remakes bezeichnet werden können, wirken aus heutiger Sicht jedenfalls deutlich ausgereifter und aufregender. Als am interessantesten gestaltet sich hierbei viel eher die Aufgabe, Parallelen innerhalb von Hitchcocks Gesamtwerk zu ziehen und sie herauszuarbeiten. 6/10.

(Originalartikel auf www.kinetoskop.de)

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