Review

Ein schlimmer Finger

„Es gibt kein du und sie – ihr seid eins.“


Die französische Autorenfilmerin Coralie Fargeat, deren harscher Rape’n’Revenge-Streifen „Revenge“ im Jahre 2017 sein Genrepublikum fand, legte im Jahre 2024 ihren in britisch-US-amerikanischer Koproduktion entstandenen, aber in Frankreich gedrehten zweiten abendfüllenden (mit rund 140 Minuten Laufzeit vielleicht sogar mehr als das) Kinofilm „The Substance“ vor – eine inhaltlich offenbar von Brian Thomas Jones‘ „Rejuvenator“ aus dem Jahre 1987 und dem Literaturklassiker „Das Bildnis des Dorian Gray“ inspirierte Bodyhorror-Groteske und starbesetzte Major-Produktion, die es in sich hat.

„Man muss sich immer wieder klarmachen, dass man auch selbst noch etwas wert ist.“

Die einst überaus erfolgreiche Schauspielerin Elizabeth Sparkle (Demi Moore, „St. Elmo's Fire“) hat seit einiger Zeit eine beliebte Sendung für rhythmische Sportgymnastik im Frühstücksfernsehen, in der sie in enger Sportkleidung die Vortänzerin gibt. Doch an ihrem 50. Geburtstag eröffnet ihr Produzent Harvey (Dennis Quaid, „Enemy Mine – Geliebter Feind“), dass sie auch für diesen Job zu alt geworden sei und er sich nach einer wesentlich jüngeren Nachfolgerin umsehen werde. Als Elizabeth nach einem Autounfall in eine Klinik kommt, gibt ihr ein Pfleger Hinweise auf ein experimentelles Schwarzmarkt-Medikament, das, einmal eingenommen, eine jüngere Version des jeweiligen Probanden produziert. Alle sieben Tage wechselt man sich mit dem bisherigen Ich ab, dessen Hülle wie in einem Koma daliegt und künstlich ernährt wird. Der wöchentliche Wechsel muss jedoch unbedingt eingehalten werden. In einer Mischung aus Neugier und Verzweiflung probiert Elizabeth die Substanz aus und findet schnell Gefallen an ihrem Alter Ego Sue (Margaret Qualley, „Poor Things“), das ihre Nachfolge in der Sportsendung antritt und zum gefeierten Fernsehstar avanciert. Doch fällt es ihr mit der Zeit immer schwerer, den Identitätstausch pünktlich zu vollziehen – mit unabsehbaren, fürchterlichen Folgen…

„Hat sie schon angefangen, dich aufzufressen?“

Wir sehen zunächst den von seiner Kalkhülle befreiten und wie ein Spiegelei daliegenden Inhalt eines Vogeleis. Durch eine Injektion bildet sich ein zweites Eigelb, das eine perfekt kreisrunde Form aufweist. Schnitt. Im Zeitraffer sehen wir, wie Elizabeth Sparkles Stern auf dem Walk Of Fame gegossen wird, wie er zunächst bewundert, aber bald beim Passieren und Überqueren nicht mehr sonderlich beachtet wird, wie er sich im Laufe der Jahre verändert und Risse bekommt. Schnitt. Nach diesem bedeutungsschwanger-metaphorischen Einstieg beginnt die Handlung, eine Groteske, in einem satirischen Zerrbild unserer Realität spielend. Dennis Quaid overactet karikierend als unangenehmer, sexistischer Produzent, der mit Sicherheit nicht zufällig Harvey heißt. Elizabeth‘ Autounfall wird, fulminant gefilmt, aus dem Inneren ihres Autos gezeigt – man ist mittendrin statt nur dabei. Die Kamera versorgt einen mit extremen, unappetitlichen Nahaufnahmen, die fast wie Blicke durchs Mikroskop wirken, und mit Logik, wie wir sie kennen, ist es nicht weit her: Wer mit welcher Intention genau hinter der Substanz steckt und ob die ein Luxus-Penthouse mit Blick über Hollywood bewohnende Elizabeth sie auf irgendeine Weise monetär begleichen muss, bleibt ungeklärt und für die Handlung gänzlich uninteressant, sprich: wird gar nicht erst thematisiert. Zudem werden zwar die konspirative Übergabe und äußerst knappen Anleitungen gezeigt bzw. zitiert, wie medizinisch voraussetzungsreich die Handhabe aber ist, und weshalb Elizabeth bzw. Sue all das – Spritzen setzen, Kanülen legen, Rückenmarksflüssigkeit absaugen, den komplett offenen Rücken des Wirtskörpers, aus dem Sue schlüpft, zunähen – aus dem Effeff beherrschen, darüber kann man sich nur wundern. Ebenso darüber, dass niemand einen Personalausweis oder ein anderes urkundliches Dokument von Sue sehen will und anscheinend keinerlei Spuren davon zurückblieben, sich alle zwei Wochen eine Spritze in den Oberschenkel zu rammen.

Man kann es aber auch sein lassen, denn das ist hier völlig gleich. Um die Entrücktheit ihres Films zu verdeutlichen, arbeiten Fargeat und ihr Team sowohl mit surrealistischen Einsprengseln als auch mit an Kubrick gemahnenden, in ihrer Durchästhetisierung künstlich wirkenden Bildern und lassen diesen in der Postproduktionen einen hyperdynamischen Schnitt angedeihen. Hämmernde Elektrobeats unterstreichen den artifiziellen Charakter auf der Tonspur. Dieser „klinischen“ Gestaltung gegenüber steht eine ungeheure Körperlichkeit, die die bereits erwähnten Close-ups bereits andeuten. Diese werden ergänzt von Point-of-View-Perspektiven, unheiligen Geräuschen und, zunächst einmal, Nacktheit. Viel Nacktheit. Sowohl Demi Moore als auch Margaret Qualley zeigen sich komplett unverhüllt in ihrer ganzen Pracht, ohne dass diese Szenen sexploitativ ausgeschlachtet würden. Ihnen haftet viel Natürlichkeit an, bzw., im Falle Sues: Natürlichkeit und Künstlichkeit zugleich. Paradox, ja – aber so ist dieser Film nun einmal. Die Ausschlachtung erfolgt auf eine andere Weise, genaugenommen auf der Meta-Ebene: In den Tanzszenen Sues und ihrer Mittänzerinnen kommt der Male Gaze, also der heterosexuelle, sexualisierte Blick auf Frauen, derart überstilisiert zum Einsatz, dass er dadurch persifliert wird.

Fargeats eigentliche Themen sind Lookismus und Altersdiskriminierung anhand eines exemplarischen Falls aus der Film- und Unterhaltungsbranche, es geht um Körperkult und den fortwährenden, überzogenen Drang nach Selbstoptimierung – und um das Streben nach Geltung und Ruhm. „The Substance“ verhandelt ebenso, wie das Aussehen den Charakter verändern kann. Aussage und Subtext gehen weit über ein einfaches „Steh zu deinem Alter“ hinaus. So sehr Elizabeth ihre Zeit als Sue genießt, so sehr verstärkt es Elizabeth‘ Selbstzweifel. Dies führt zu einer besonderen Art multipler Persönlichkeit und schließlich zu Selbsthass, der sich in Form der externalisierten „Sue“ bahnbricht und in einen ultrabrutalen, vielleicht filmisch etwas zu arg ausgekosteten Vernichtungswillen gegenüber Elizabeth mündet.

Diese Entwicklung erinnert dann auch immer wieder an sozialkritische Horrorcomics der alten Schule, in Kombination mit Masken und Spezialeffekten vor allem aber an den Bodyhorror Cronenbergs, Gordons, Yuznas oder auch Carpenters (vgl. „Das Ding aus einer anderen Welt“), an den „The Substance“ auch eine Hommage ist: Gore, Mutationen und Splatter. Zugleich schuf Fargeat hiermit ein Stück modernes feministisches Kino, dessen vermeintliches Ende „Carrie“ und „Braindead“ zitiert, dabei aber wie ein Gwar-Konzert aussieht. Und als wollte Fargeat immer noch einen draufsetzen, geht es sogar noch weiter, bis sich der Kreis zum Prolog schließt. Welch ein Ritt! „The Substance“ ist vielleicht Demi Moores bester Film, für ihr Schauspiel und ihren Mut zu diesem Projekt kann man ihr nur Respekt zollen. Margaret Qualley steht ihr dabei in nichts nach und beweist einmal mehr ein gutes Händchen bei der Rollenwahl. Neben allen bereits erwähnten Vorzügen ist unbedingt noch zu erwähnen, in welch angenehmem dramaturgischen Tempo „The Substance“ genüsslich die Schraube des Wahnsinns immer weiter anzieht. Interessant zudem, dass, was früher mit Sicherheit keinerlei Jugendfreigabe erhalten hätte, heute mit FSK 16 durchgewunken wird.

Wer die Gelegenheit wahrnahm, „The Substance“ im Kino zu sehen, kann sich glücklich schätzen. 8,5 von 10 eitrigen Einstichen für diese schmodderige, ebenso kluge wie plakative Wiedergeburt des sozialkritischen Bodyhorrors!

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