Next-Level-"Pretty Woman"
Nach schon starken Stilübungen wie "Tangerine" oder "The Florida Project" setzt Sean Baker mit "Anora" nun zum großen Wurf und Klassiker seines modernen Melodramafachs an - unter dem täuschenden Chamäleonmantel einer dieser platten Erotik-RomComs, die seit einigen Jahren definitiv (/leider?) ein Publikum besitzen. Nur ist das wenn überhaupt nur die Theorie und Oberfläche von "Anora", der in echt ein augenzwinkerndes Epos über wahre Liebe, Käuflichkeit, die aktuelle Gesellschaft und Ehrlichkeit ist, das nicht weiter entfernt von fehlgeleitetem Beziehungsmüll wie den "Fifty Shades"-Filmen sein könnte. Das hier ist der Real Deal. Witzig, wahrhaftig, weise. Über eine Stripperin und Prostituierte aus Manhattan, die einen russischen Oligarchensohn zuerst als Kunde und dann privater kennenlernt - womit seine reiche und mächtige Familie in der Heimat jedoch gar nicht einverstanden ist...
Sean Bakers Meisterwerk
Pulsierend, menschlich, fröhlich, traurig, fehlerhaft. "Anora" lebt, funktioniert, flirtet und fällt hin und auf. Alle Schutzschilde runter. Zwischen Traum und Wirklichkeit. Zwischen Fake und Wahrheit. Zwischen Musikvideo und harscher Realität. Kokain und Kälte. Bettsport (überall) und Wärme. Sex und Abstand. Fallhöhe und Fatalität. Aufenthaltsgenehmigung und Arschritt. Gangster und Menschen. Sean Baker war von Beginn an einer der Regisseure, die man im Auge behalten wollte und mit denen man mitwuchs. Aber das ist in vielerlei Hinsicht der Höhepunkt. Und das wird auch schwer noch weiter zu toppen oder auszubauen. Aber bei dem Mann, weiß man nie... "Anora" könnte so so so oberflächlich, kitschig und bescheuert sein, er könnte komplett schiefgehen und einfach nicht funktionieren - aber das Gegenteil ist der Fall. Er ist furchtlos, er ist fordernd, er ist freizügig, er ist fabelhaft. Unbändig und unberechenbar. Die jungen Darsteller spielen aufopferungsvoll und schonungslos. Die Bildsprache ist der vollkommene Wahnsinn. Der Soundtrack wird ein Klassiker in seinem eigenen Bereich. Alles ist wild und wahnsinnig frisch. Impulsiv wie eine Hochzeit in Vegas. Berechnend wie der Satz des Pythagoras. Und einer meiner Lieblingsfilme des Jahres auf der Zielgeraden eines eh schon starken Filmjahres.
Der Ritt des Jahres
Fazit: sinnlich, authentisch, hypnotisch. Das totale Gegenstück zu sowas wie "365 Days" oder "After" - trotz ähnlicher Gewässer in denen er fischt. Bakers bisher feinste Stunde. Voll in seinem Element. Zeitgeist, Weisheit, Tiefe, doppelter Boden unter stylisch-glitzernder Rom-Com-Glasur. Barocke Blowjobs. Ein Klischeekiller. Screwballcurveball. Unfucked Gems. Vanya on Fucking Sex Street. Der moderne "Showgirls"?! "Anora" ist heisskalt.