Der Graf von Monte Christo
Kongeniale Umsetzung der berühmtesten Revenge-Story der Literaturgeschichte, die mit elegischer audiovisueller Wucht, famosen Darstellern und einer perfekt getakteten Dramaturgie dem klassischen Abenteuerkino eine moderne Referenz erweist.
Viele halten den schwarz gewandeten Rächer für eine Erfindung der US-amerikanischen Popkultur. Fügen wir dem Ganzen noch „maskiert“ hinzu, dann stimmt das auch. Der heute beinahe schon als globale Marke durchgehende Batman widmet sich nun bereits fast ein Jahrhundert der außergesetzlichen Verbrechensbekämpfung und wird dabei - zumindest zeitlich gesehen - nur noch von einem gewissen Don Diego de la Vega, besser bekannt als „Zorro“, übertroffen. Beide entstammen der längst salonfähig gewordenen Comic- bzw. Pulp-Kultur und sind sowohl charakterlich wie auch äußerlich sehr ähnlich angelegt. Wohlhabend, intelligent und kampferprobt, leben sie ihren radikalen Gerechtigkeitssinn als maskierte Vigilanten aus. Da sie selbst außerhalb des Gesetzes stehen, sind sie weitaus erfolgreicher als die jeweilige Staatsgewalt, bewegen sich aber auch moralisch wie rechtlich stets auf einem sehr schmalen Grad.
Nun könnte man annehmen, dass die große Sympathie für den rächenden Outlaw, zumal dieser auch noch auf der moralisch richtigen Seite steht, eine uramerikanische, weil historisch motivierte ist. Man muss gar nicht Robin Hood bemühen, ohnehin mehr Beschützer und Wohltäter als Rächer, um hier entschieden zu widersprechen. Schließlich gibt es eine Figur des französischen Romanciers Alexandre Dumas, die weitaus besser als Vorbild für die beiden maskierten Comic-Helden taugt: Edmond Dantes bzw. sein Alter Ego „Der Graf von Monte Christo“. Wie seine US-Epigonen ist er getrieben von einem Verlangen nach Gerechtigkeit, das sich in vigilanten (Rache-)Akten entlädt. Ähnlich Bruce Wayne kanalisiert er dabei ein extremes persönliches Trauma inklusive eines Abtauchens in seelische Abgründe, bis ihn schussendlich nur noch Nuancen von der charakterlichen Verkommenheit seiner Widersacher trennen.
Das enorme Drama-Potential von Figur und Geschichte ist geradezu prädestiniert für eine filmische Umsetzung. Bis heute gibt es dann auch gut 30 Spielfilm- und TV-Adaptionen des zwischen 1844 und 1846 veröffentlichten Fortsetzungsromans. Und ein Ende dieser verblüffend lange anhaltenden Popularität scheint nicht in Sicht. Ende 2024 lockte die neueste Umsetzung 9,5 Millionen Franzosen in die Lichtspielhäuser und hängte damit sämtliche Hollywood-Blockbuster nicht nur jenes Kinojahres überdeutlich ab. Dem Regieduo Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière gelang dabei das Kunststück den rund 1000-seitigen Roman auf eine Laufzeit von knapp drei Stunden zu komprimieren, ohne die Essenz der Vorlage zu verwässern. Ihr „Trick“ besteht in der klaren Konzentration auf Sicht und Handlungen des Protagonisten, womit Empathie, Dramaturgie und Spannung im stetigen Fluss aufeinander einwirken und in den Bann ziehen. Der Film findet dabei vor allem genau die richtige Mischung aus Verdichtung und Ausdehnung der einzelnen Plotelemente.
So erfahren wir in vergleichsweise rascher Abfolge wie der junge Seemann Edmond Dantés aufgrund seines Mutes und seiner Tatkraft von seinem Förderer mit dem Kapitänsamt belohnt wird. Wir lernen seine große Liebe Mercedes kennen, mit der er kurz daraufhin vor den Traualtar tritt. Doch bevor die Eheschließung vollzogen werden kann, wird der Bräutigam in spe verhaftet, abgeurteilt und in das berüchtigte Inselgefängnis Château d’If gebracht, wo eine lebenslange Haft auf ihn wartet. Zwei vermeintliche Freunde (Kapitän Danglars und Fernard de Morcerf) sowie Staatsanwalt Villefort paktieren aus unterschiedlichen persönlichen Motiven und sorgen für die brutale Zerstörung sämtlicher Lebensträume des zu Unrecht als Landesverräter denunzierten Dantés. Als der Jahre später schon sämtlichen Lebenswillen aufgegeben hat, stößt er plötzlich auf einen gelehrten Mithäftling, der ihm nicht nur eine umfassende humanistische Bildung, sondern auch die Chance zum Ausbruch beschert. Vor allem aber verhilft er ihm zu unermeßlichen Reichtum durch einen geheimen Schatz auf der Insel Montecristo. Nun hat der von Haß und Rachedurst getriebene Dantés endlich Mittel und Gelegenheit, seine allesamt zu Ruhm und Wohlstand aufgestiegenen Erzfeinde zur Rechenschaft zu ziehen. Als geheimnisvoller Graf von Monte Christo tritt er wieder in deren Leben, mit dem Ziel sie vollumfänglich zu vernichten.
Dieser perfekt ausgeklügelte Racheplan, der nicht nur weitere Schandtaten der drei Verräter schonungslos offenlegt, sondern auch deren Familien mit in den Abgrund reißt, nimmt dann auch die gesamte zweite Filmhälfte ein. Eine Gewichtung, die voll und ganz aufgeht, da sie nicht nur den ebenfalls geschickt getriggerten Rachedurst des Zuschauers stillt, sondern auch die charakterliche Transformation des lebenslustigen und gutmütigen Dantés zum eiskalten Vigilanten verhandelt. Beides bekommt so mehr Gewicht und Dramatik und spiegelt eindrucksvoll den Pyrrhussieg einer totalen Vergeltung.
Der sowohl im dramatischen wie auch im komödiantischen Fach erfolgreiche Franzose Pierre Niney meistert diesen Spagat der Protagonistenrolle bravourös. Für das Gelingen des Films ist das essentiell. Aufgrund der eindeutigen Fixierung auf Edmond Dantés ist die Identifikation mit dem charmanten Jüngling ebenso wichtig wie die emphatische Verbindung zu seinem Alter Ego, dem düsteren Rachefürsten Monte Christo. Auch die Mimen der übrigen zentralen Figuren (Mercédès, Villefort, Mocerf) werden ihrem Ruf gerecht, der aktuellen französischen Darsteller-Elite anzugehören. Was den Film aber deutlich über sämtlich Adaptionen jüngeren Datums hievt, ist seine audiovisuelle Wucht. Das für europäische Verhältnisse vergleichsweise hohe Budget von €43 Millionen zahlt sich vor allem in punkto Originalschauplätzen und Außendrehs aus. Für einen im positiven Sinn altmodischen Abenteuerfilm, der auch narrativ mit großer Geste arbeitet, sind ausladende Landschafts-Panoramen, mondäne Bauten und aufwendig ausgestattete Interieurs so etwas wie eine nicht verhandelbare Visitenkarte. Diese visuelle Extravaganz ist aber nur die halbe Miete ohne eine entsprechende Vertonung. Und da kommt Jérôme Rebotier ins Spiel, dessen Score zwischen hymnischer Elegie und dramatischem Tremolo die passgenaue Bandbreite liefert.
Alexandre Dumas jedenfalls würde sich bestimmt glücklich schätzen ob einer solch kongenialen Umsetzung seines berühmtesten Werks fast 180 Jahre nach Veröffentlichung. Sicher sind die verhandelten Themen wie Verrat, Rache, Gerechtigkeit, aber auch die erfolgreiche Neuerfindung aus einer existentiellen Lebenskrise, so universell wie zeitlos. Für die Wirren rund um die napoleonische Herrschaft im Speziellen und klassische Abenteuerliteratur im Allgemeinen, gilt das aber weit weniger. Umso beeindruckender sind Erfolg und Qualität der x-ten Verfilmung des Grafen von Monte Christo, die emotional weitaus packender und intellektuell weitaus stimulierender daher kommt, als so mancher moderne Epigone aus der düsteren oder auch bunten Comicwelt.