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Die Filme "Der Rest ist Schweigen" (1959) und "Kirmes" (1960) nehmen im deutschen Nachkriegsfilm bis Mitte der 60er Jahre einen Sonderstatus ein, da sie von ihren Regisseuren Helmut Käutner und Wolfgang Staudte selbst produziert wurden, die 1958 gemeinsam mit dem Regisseur und Produzenten Harald Braun die "Freie Film Produktion" gegründet hatten, um unbeeinflusst von politischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten Dritter ihre selbst verfassten Drehbücher umsetzen zu können. Es blieb bei diesen zwei Filmen - vielleicht dem frühen Tod Harald Brauns 1960 geschuldet - die beim Publikum und der Kritik scheiterten und in Vergessenheit gerieten, obwohl viele ihrer sonstigen Filme bis heute populär geblieben sind.

Besonders für Wolfgang Staudte bedeutete diese Konstellation endlich die Möglichkeit, seine kritische Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus nach seinen Vorstellungen fortzusetzen. Für seinen 1959 heraus gebrachten Film "Rosen für den Staatsanwalt" hatte er erstmals, seitdem er nicht mehr für die DEFA drehte (unter anderen "Die Mörder sind unter uns" (1946)), auch in der Bundesrepublik Deutschland eine positive Resonanz bei Publikum und Kritik erfahren, nahm den ihm zuerkannten Bundesfilmpreis aber nicht an - ein offensichtliches Bekenntnis dafür, dass ihm die kritische Relevanz des Films zu gering war. Verglichen mit dem bis heute anerkanntesten Anti-Kriegsfilm deutscher Produktion "Die Brücke" (1959) von Bernhard Wicki, der eine Vielzahl von Preisen erhielt, und dem trotz seiner Thematik sehr unterhaltsamen "Rosen für den Staatsanwalt" wird deutlich, warum "Kirmes" keine Chance hatte - Wolfgang Staudte verzichtete darin auf jede Distanz zum sogenannten "Durchschnittsbürger".

Stand in "Rosen für den Staatsanwalt" die Judikative im Mittelpunkt, deren Vertreter zum großen Teil unmittelbar vom nationalsozialistischen Regime in den demokratischen Rechtsstaat überwechselten, ohne das ihr früheres Handeln in Frage gestellt wurde - eine Phase, die erst jetzt offiziell aufgearbeitet wird und deren Ergebnis Staudtes damalige Kritik weit in den Schatten stellt - und betrachtete "Die Brücke" den nationalsozialistischen Wahnsinns, kurz vor dem Kriegsende noch ihre Jüngsten sinnlos in den Tod zu schicken, ohne die Verantwortung Aller dafür aufzuzeigen, verdeutlicht "Kirmes" am Mikrokosmos eines Dorfes in der Eifel den generellen Opportunismus jedes Einzelnen, der damit nicht nur ein unmenschliches Regime am Leben erhielt, sondern unfähig war, die Lehren daraus zu ziehen.

Bevor Staudte zu den Ereignissen kurz vor dem Ende des Krieges wechselt, beschreibt er die Feststimmung anlässlich der jährlichen Kirmes in dem kleinen Eifelort, Ende der 50er Jahre. Die typisch penetrante Ausgelassenheit wird kurz unterbrochen, als bei den Erdarbeiten für das Fundament eines Karussells ein Skelett mit Stahlhelm und Gewehr gefunden wird, aber die Attraktionen des Jahrmarkts ziehen die Aufmerksamkeit schnell wieder auf sich. Nur im Haus von Martha (Manja Behrens) und Paul Mertens (Hans Mahnke) herrscht Aufregung, denn Martha ist sofort klar, dass es sich bei dem Toten nur um ihren Sohn Robert (Götz George) handeln kann. Die Anwesenden – darunter der Bürgermeister Georg Hölchert (Wolfgang Reichmann), der Pfarrer (Fritz Schmiedel) und der Gastwirt Balthausen (Benno Hoffmann) – widersprechen ihr zuerst, aber als sie darauf beharrt und ihn anständig begraben lassen will, schwenken sie um und ändern ihre Argumentation. Roberts Name steht auf dem Denkmal für die Gefallenen des Krieges, aber wenn es bekannt werden würde, dass er hier im Ort gestorben ist, wäre sein Andenken als Deserteur besudelt.

Wolfgang Staudte hätte die etwa 10minütige Sequenz auch an das Ende des Films stellen können, um die abschließende Konsequenz der zentralen Handlung im Ungewissen zu lassen, aber ihm war nicht an einem Spannungsaufbau gelegen, sondern an der Sichtweise der Bürger der demokratischen Bundesrepublik Deutschland auf die kaum 15 Jahre zurückliegende Zeit der Diktatur. Die Protagonisten der Eingangsszene spielten auch die Hauptrollen während der letzten Kriegstage und ihre Reaktion auf den Skelettfund lassen sich bei den von Staudte geschilderten Ereignissen um den gerade 18jährigen Robert, der desertiert war, um in seinem Heimatdorf Unterschlupf zu suchen, nicht mehr ausblenden. Zu offensichtlich wird es, dass sich Niemand einer Schuld bewusst ist und dass Roberts Fahnenflucht nach wie vor als Vaterlandsverrat bewertet wird, gleichbedeutend damit, dass die damalige Regierungspolitik der NSDAP, noch die Jüngsten in einen aussichtlosen Kampf zu schicken, nach wie vor nicht verurteilt wird. Dass der jetzige Bürgermeister Hölchert damals schon als NSDAP – Ortsgruppenleiter fungierte, betont nicht allein die Unbelehrbarkeit der Bewohner, sondern ist signifikant für den reibungslosen Übergang nach dem Krieg, der keine echte Zäsur brachte.

Wie nah „Kirmes“ damit der Realität kam, lässt sich an der vehementen Ablehnung des Films erkennen, die Staudte von Seiten der Kritik und des Publikums entgegen schlug, und die dem Ansehen des Films einen bis heute bleibenden Schaden zufügte. Auffällig an den geäußerten Kritikpunkten ist, dass sie auf die Kernaussage des Films nicht eingehen, sondern Randaspekte benennen wie die überzeichnete Figur des NSDAP-Mannes, das eingeschränkte Umfeld einer dörflichen Gemeinschaft oder den konventionellen Storyaufbau. Dabei ist es geradezu auffällig, wie sehr Staudte Einseitigkeiten zu vermeiden versuchte. Selbst die extremste Figur des jovialen Hölchert, der nach außen die Ideale Adolf Hitlers predigt, angesichts der vorrückenden US-Armee aber vorsichtshalber Akten verbrennt und NS-Zeichen beseitigt, agiert aus heutiger Sicht eher wie ein typischer Machtmensch, der seinen Einfluss missbraucht und nur dezent Gewalt anwendet. Die Fähigkeit wider besseren Wissens auch die negativsten Situationen schön zu reden, privilegiert ihn geradezu für dieses Amt - Reichmanns Darstellung haftet nichts satirisches oder übertriebenes an.

Auch die übrigen Protagonisten reagieren nachvollziehbar, wollen Robert sogar beistehen, verlieren aber den Mut angesichts eines Regimes, das Jedem mit der Todesstrafe droht, der einem Deserteur hilft, dabei auch die jeweilige Familie mit in die Sippenhaftung einschließend. Sehr gut wird Staudtes differenzierter Blick an der Figur des Pfarrers sichtbar, der Robert zuerst vier Tage Asyl gewährt, bis er ihn von Ängsten übermannt wieder wegschickt. Als in der Kapelle Teile der Uniform Roberts gefunden werden, gerät er in Verdacht und er wird brutal von der SS verhört, verrät den Flüchtigen aber nicht. Götz George spielt den Deserteur mit jungenhafter Attitüde, der es nicht mehr aushält als Soldat zu kämpfen. Er will einfach nur nach Hause, ohne dabei politische oder soldatische Reden zu schwingen. Staudte gönnt ihm noch einen schönen Moment, als er mit der hübschen Annette (Juliette Mayniel), einer zwangsverpflichteten französischen Arbeiterin, eine Nacht verbringt, aber sie verrät ihn sofort, als sie unter Druck gerät. „Kirmes“ idealisiert und verteufelt Niemanden, sondern entwirft ein tödliches Geflecht aus Angst und Egoismus, dass selbst eine kleine, von den großen politischen Ereignissen unberührte Dorf-Gemeinschaft – auch die US-Armee zieht sofort weiter, weshalb die evakuierten Bewohner schnell wieder in ihre Häuser zurückkehren können – dazu bringt, einen aus ihrer Mitte in den Tod zu treiben.

Robert wird nicht gefasst oder ausgeliefert, sondern erschießt sich selbst, weil er den inneren Konflikt seiner Familie nicht mehr aushält – und wird in einem Bombenkrater mit seinen Utensilien entsorgt, um jeden Verdacht zu vermeiden. So schrecklich diese Ereignisse sind, so vermittelt „Kirmes“ doch Verständnis für die Reaktionen der Dorfbewohner und erhebt sich nicht über sie. Einzig die Figur des Ortsgruppenleiters Hölchert als willfähriger Vertreter eines mörderischen Regimes verdient keine Nachsicht. Der wahre Schrecken zeigt sich erst in der Gegenwart, nicht allein durch die Wahl dieses Mannes zum Bürgermeister, dessen pragmatischer Umgang mit den neuen Verhältnissen signifikant für die generelle Haltung dieser Zeit ist, sondern die Weigerung, sich mit einer Phase auseinander zu setzen, die Jeden dazu bringen konnte, gegen seine inneren Überzeugungen zu verstoßen. Wolfgang Staudte ging es nicht um eine nachträgliche Verurteilung, sondern um das Verhalten in der Gegenwart, dass lieber einen 18jährigen Jungen nach wie vor als Verräter betrachtete, als sich der Auswirkungen und Folgen eines diktatorischen Regimes bewusst zu werden.

Von diesem Vorwurf konnte sich 1960, als „Kirmes“ in die Kinos kam, kaum Jemand freisprechen, zu konkret vertrat Staudte seine Meinung und zu genau traf er damit den Nerv, dabei konsequent auf unterhaltende und damit abschwächende Elemente in seinem Film verzichtend. An der grundsätzlichen Aussage des Films hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn der zeitliche Abstand den Blick darauf erleichtert, weshalb es an der Zeit wäre, „Kirmes“ wieder einem größeren Publikum zugänglich werden zu lassen, jenseits von kleinlichen Kritikpunkten. (10/10)

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