Der letzte deutsche Kaiser
Der Dokumentarfilm Philipp Grülls („Wanted – Der gefährlichste Waffenhändler der Welt“) und Christoph Nahrs („50 Jahre Elfmeterschießen – Ein deutsches Drama“) über den deutschen Fußballer, Trainer und Sportfunktionär Franz Beckenbauer ist nicht der erste seiner Art. Kürzere Dokumentationen und manch Film über vergangene Europa- und Weltmeisterschaften habe ich zwar gesehen, den wie „Beckenbauer“ für die ARD produzierten 90-Minüter „Fußball – ein Leben: Franz Beckenbauer.“ aus dem Jahre 2015 aber ebenso wenig wie das 2022er Biopic „Der Kaiser“ für den Bezahlsender Sky. Vergleichsmöglichkeit habe ich daher nicht wirklich. Dass „Beckenbauer“ ausgerechnet am Tage des Bekanntwerdens des Todes Beckenbauers erstausgestrahlt wurde, ist eine bittere Ironie des Schicksals.
Zunächst einmal ist „Beckenbauer“ ein Dokumentarfilm wie so viele andere auch: In chronologischer Reihenfolge wird der Werdegang des Porträtierten aufgezeigt, kommentiert von Weggefährtinnen und Weggefährten sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, unterlegt mit zahlreichen Archivaufnahmen und Fotos. Ein entscheidendes Zitat den Menschen Franz Beckenbauer betreffend paraphrasiert ziemlich zu Beginn sein Bruder Walter, als er wissen lässt, welch trotz ihres katholischen Glaubens progressive Haltung die gemeinsame Mutter ihm und dem 1945 geborenen Nachkriegskind Franz eingeimpft hatte: Hautfarben, Konfessionen, sogar sexuelle Neigungen seien bedeutungslos, es zähle allein der Mensch. Man denkt sich unweigerlich: Dies könnte schon früh die Grundsteine für Beckenbauers gefühlt stets offene und freundliche Art und sein laut Zeitzeugen nie Klassenunterschiede gemacht habendes Wesen gelegt haben – und ihm auf dem Weg zum weltmännischen Kosmopolit behilflich gewesen sein.
Während Grüll und Nahrs also die unvergleichliche Karriere des einst so hageren Jünglings Revue passieren lassen, erfährt man vieles, was man vielleicht schon wusste, Details, die man eventuell noch nicht kannte – oder umgekehrt, je nach Kenntnisstand und bisherigem Interesse an der Person Beckenbauer: Wie der in einfachen Verhältnissen in München-Giesing Aufgewachsene bereits als junger Spieler mit seinem feinfühligem Ball-ett und Präzisionsspiel den Fußball endgültig vom Image primitiver Treterei befreite und damit half, den Fußball salonfähig zu machen, dabei trotzdem kein reiner Schönspieler, sondern auch ein Kämpfertyp war (tatsächlich dürfte es diese Mischung gewesen sein, die ihn so erfolgreich machte), wie er sich als erster deutscher Spieler einen Manager besorgte und dadurch zum Selbstvermarktungsprofi wurde (mit von „Krrraft in den Teller, Knorrrr auf den Tisch“ über „Schampoh“-Spots bis hin zu „Ja ist denn heut‘ scho’ Weihnachten?“ und „Da legst di nieder!“ legendärer Werbung), wie er ans Herz gehende Chansons sang (die ich noch gar nicht alle kannte), seine Karriere beim FC Bayern, Weltmeister als Spieler 1974, Ärger mit Steuer, seine Auslandskarriere bei Cosmos New York, sein Karriereende als Spieler beim HSV, dann Teamchef und Trainer der Nationalmannschaft, Weltmeister als Trainer 1990, weitere Karriere beim FC Bayern, schließlich Botschafter der WM 2006 im eigenen Lande.
Als Interview-Partnerinnen und -Partner gewann man neben seinem Bruder seine Ex-Frauen Diana Sandmann und Sybille Beckenbauer, seine sportlichen Weggefährten Sepp Maier, Paul Breitner, Günter Netzer, Arie Haan, Lothar Matthäus und Matthias Sammer, aus der Medienbranche u.a. „Bild“-Reporter Herbert Jung, „Spiegel“-Reporter Gunther Latsch und den Kabarettisten Harald Schmidt, und aus der Politik Joschka Fischer, Otto Schily und Wolfgang Schäuble. Auch Beckenbauers zum Zeitpunkt des Drehs aktueller Manager (dessen Name mir gerade entfallen ist) kommt zu Wort. Von Bruder Walter sind kritische Worte zu Franz‘ erstem langjährigen Manager Robert Schwan zu vernehmen und Franz‘ seiner damaligen Ehefrau gegenüber nicht wirklich fair verlaufene Beziehungsanbahnung mit Diana Sandmann wird ungeschönt nachgezeichnet, doch die Hauptkritikpunkte an seiner Person stehen – natürlich – im Zusammenhang mit der WM-Vergabe 2006 und den (nach meinem Dafürhalten damit in Verbindung stehenden) Äußerungen zur noch wesentlich skandalöseren WM-Vergabe an Katar durch die FIFA (Stichwort Zwangsarbeiter). Der Film bezieht dabei keine klare Position, sondern lässt sich zum Teil widersprechende Aussagen nebeneinanderstehen.
Nun war Franz Beckenbauer nicht fehlerfrei, so viel steht fest. Natürlich konnte man über seine frühen Werbe-Engagements genauso lachen wie über seine Gesangskünste und seinen Spielfilm „Libero“, und natürlich konnte man den großkopferten FC Bayern auch zu Zeiten Beckenbauers leidenschaftlich hassen. Gerade in den 1990ern, als Beckenbauers Erfolgsserie einfach kein Ende zu nehmen schien und er von den Medien als überhebliche Lichtgestalt inszeniert wurde, fand ich ihn oft ein bisschen „drüber“. Nur änderte all dies nichts an meinem grundsätzlichen Respekt ihm gegenüber und mir war klar, dass er zurecht Deutschlands wichtigster Fußballbotschafter ist. Dies macht einem dieser Film noch einmal bewusst.
Doch was nach Bekanntwerden von Korruption innerhalb der FIFA und mutmaßlich eben auch bei der WM-Vergabe medial auf Beckenbauer einprasselte, glich einer Rufmordkampagne, die ihn zum Sündenbock machte – und ihm offenbar sehr zusetzte. Dazu möchte ich an dieser Stelle einmal feststellen: Es handelte sich in erster Linie um ein mediales Phänomen, durchsetzt mit einer Menge Heuchelei. Innerhalb der Bevölkerung dürfte so gut wie kein Fußball-Fan davon überrascht gewesen sein, welch korrupter Haufen die FIFA ist und dass eine WM letztlich gekauft werden muss. Die noch nicht einmal aus Steuergeldern mutmaßlich investierten zehn Millionen sind dabei ein vergleichsweise geringer Betrag dafür, die WM im fußballbegeisterten Deutschland stattfinden zu lassen, die sich zudem in Windeseile amortisiert haben dürften. So what?! Der eigentliche Skandal wäre es (und so erkläre ich mir Beckenbauers obige Aussagen dazu), wenn Teil des Geschäfts war, im Gegenzug zu den Ja-Stimmen aus Katar später eine WM ebendort stattfinden zu lassen, sodass der DFB bis zum Schluss unter dem Druck gestanden hätte, diese krasse Fehlentscheidung verteidigen zu müssen.
Leider halten fast alle Involvierten dazu die Klappe, streiten die Vorwürfe ab oder sind (wie nun leider auch Beckenbauer) bereits verstorben. Vielleicht hätte der DFB hier den entscheidenden Unterschied machen können, indem er nach Bekanntwerden mit offenen Karten spielt, die genauen FIFA-Korruptionsstrukturen offenlegt und damit dazu beiträgt, diese zukünftig hinter sich lassen zu können. Vielleicht hätte gerade auch Beckenbauer mit seinem bis dahin hervorragenden Leumund und seiner Vorbildfunktion die Flucht nach vorn antreten sollen. Dass dies niemand tat, wird seine Gründe haben, und diese sind bestimmt nicht rein monetärer Natur. Die Korruptionsaffäre um die WM 2006 jedoch medial derart stark an der Person Beckenbauer statt am System festzumachen, ist boulevardesker Sensationsjournalismus ohne Rücksicht auf Verluste, den Beckenbauer nicht verdient hatte. Ein Beckenbauer übrigens, der selbst der schmierigen Springerpresse, die seine Affäre mit Diana Sandmann ausgeschlachtet hatte, weiterhin wohlgesonnen war und der er später als Kolumnist zur Verfügung stand, wie kurioserweise auch Paul Breitner und andere sportliche Hochkaräter. Diesbezüglich scheint die ganze Branche ziemlich schmerzbefreit. Wenigstens Joschka Fischer äußert sich in diesem Film ähnlich, wie ich es gerade getan habe, oder deutet es zumindest an – womit die Beteiligung der Vertreter aus der Politik an diesem Film dann doch ein wenig Sinn ergibt, der sich mir ansonsten nicht erschließt. Da hätte ich mir andere Interviewpartner gewünscht.
Der Film „Beckenbauer“ macht einem bewusst, welch genialer Spieler Beckenbauer war, welch akribischer Arbeiter als Trainer, dass er sich nie scheute, Verantwortung zu übernehmen, und dass er anscheinend tatsächlich dringend einen Manager gebraucht hatte, weil er kaum jemandem einen Wunsch abschlagen konnte. Das ist vielleicht das größte Verdienst dieses eigentlich viel zu kurzen Films: faktenbasiert zusammenzufassen, weshalb Beckenbauer sich als Spross einer Arbeiterfamilie die meiste Zeit seines Lebens gesellschaftlich weit oben befand und worauf die Faszination beruhte, die der zum „Kaiser“ Gekrönte auf so viele ausstrahlte. Der Film endet mit dem viel zu frühen Tod seines Sohns Stephans und einem von Krankheit gebeutelten, von der Öffentlichkeit zurückgezogen lebenden Franz, der für diesen Film nicht mehr zur Verfügung stand, leider sehr traurig und ließ mich nachdenklich zurück.
Denn auch mir wurde bewusst, dass er mich und viele andere ein ganzes Leben lang begleitet hatte, den einen mehr, den anderen weniger. Die WM ’86 hatte ich nur am Rande mitbekommen, zur (im Film leider komplett ausgesparten) EM ’88 im eigenen Lande aber fiel mir ein Werbefaltblatt Paninis in Kooperation mit Coca-Cola und Beckenbauer in die Hände, in dem er „Sei mein Co-Trainer bei der EM!“ bat. Und ich ließ mich nicht lange bitten, verfolgte die EM am Bildschirm und war auch 1990 am Start, als mich das Fußballfieber so richtig ergriff und ich voll und ganz in meiner imaginierte Co-Trainer-Position aufging. Als ich daraufhin selbst einmal kickte, ließ ich mich u.a. von seiner offensiven Auslegung der Libero-Position inspirieren, obwohl ich ihn nie hatte spielen sehen. Und ich möchte ihn nicht nur als Fußballer, sondern auch als lebenslustigen Menschen, der gerne einen lustigen Spruch auf den Lippen hatte, sowie als später schelmischen Opa mit ungebrochener Begeisterungsfähigkeit in Mimik und Augen (wie Fotos beweisen) in Erinnerung behalten. Er war irgendwie auch mein Trainer – und ich so gern sein Co-Trainer. Und mit den Worten „Ruhe in Frieden, Franz Beckenbauer – und grüß mir den Andi!“ beende ich mit ein wenig feucht gewordenen Augen nun endlich diese zu einem persönlichen, wahrscheinlich viel zu sentimentalen Nachruf gewordene Dokumentarfilmrezension…