Black Snow - oder Tribute an die dunkle Seite der Macht
Was haben „Der Herr der Ringe“, „Harry Potter“, „Alien“ und „Star Wars“ gemeinsam? Also abseits ihrer Status als SiFi/Fantasy-Filmklassiker und polkulturelle Elementargewalten? Genau, bei allen kamen wir mit teilweise großer zeitlicher Verzögerung in den Genuss nicht minder episch erzählter Vorgeschichten, neudeutsch auch als „Prequels“ bekannt. Daß diese nicht zwingend nötig gewesen wären, mitunter teilweise sogar den Nimbus der Originale beschädigten, Mythen entmystifizierten und Außergewöhnliches plötzlich profan erscheinen ließen, steht auf einem anderen Blatt. Rein monetär - und die Filmindustrie ist nunmal, na ja, eine Industrie - haben sie sich allerdings definitiv gelohnt.
Das dachte sich wohl auch Suzanne Collins, ihres Zeichens erfolgreiche Epigonin im Kielwasser J.K. Rowlings. Ihre dystopische Jugendroman-Trilogie „The Hunger Games“ generierte vier Blockbuster und einen neuen Filmstar (Jennifer Lawrence). Auch wenn der Fantasy-Platzhirsch Potter weder literarisch noch filmisch und schon gar nicht hinsichtlich seines popkulturellen Impacts in Schlagdistanz kam, so sprechen doch 100 Millionen verkaufte Bücher und fast 3 Milliarden Dollar an den Kinokassen eine imposante Sprache. Da kann man schon mal darüber nachdenken, wie es eigentlich zu dem kam, was später so viel Reibach machte. Gesagt, getan und so veröffentlichte Collins 10 Jahre nach dem Finale ihrer Hunger-Games-Trilogie („Mockingjay“, 2010) das mehr oder weniger heiß ersehnte Prequel.
Hollywood gilt ja vielen als Sehnsuchtsort, aber sitzen dort auch viele Sehnsüchtige und so kommen wir bereits gut 3 Jahre nach der Buchveröffentlichung in den Genuss der Filmversion von „The Ballad of Songbirds and Snakes“. Natürlich wurde diesem recht sperrigen Titel der Slogan „The Hunger Games“ vorangestellt, schließlich will man ganz sicher gehen, dass die Marke auch erkannt wird. Und das ist durchaus berechtigt. Zwar spielen die allermeisten Prequel in demselben Kosmos der originale, aber sehr häufig muss das lieb gewonnene Stammpersonal ausgetauscht werden, da es entweder noch gar nicht am Leben oder mindestens deutlich jünger ist. Dass dies zu einem Problem werden kann, zeigten vor allem die Vorgeschichten zu Harry Potter und Star Wars in denen jeweils ikonische Helden-Trios ausgetauscht wurden, die nie den Malus eines lauen Aufgusses revidieren konnten.
Der neue „Hunger Games“ hat es da etwas leichter, denn er fokussiert sich nicht auf die allseits beliebte Protagonistin Katniss Everdeen. Im Zentrum steht vielmehr der Antagonist und Veranstalter der Hungerspiele, Präsident Coriolanus Snow. In den alten Filmen agiert er mehr im Hintergrund, ist gewissermaßen die böse graue Eminenz, ein Kardinal Richelieu der fiktiven Nation Panem. Donald Sutherland, der es wie kaum ein Zweiter versteht zugleich väterlich und diabolisch zu wirken, drückt den Filmen trotz relativ geringer Screentime auch seinen ganz persönlichen Stempel auf und macht Show zu einer geheimnisvollen Nemesis für Everdeen. Das funktioniert nicht nur aufgrund Sutherlands Charisma so gut, sonder schlicht auch deshalb, weil vieles aus der Vergangenheit der Figur nebulös bleibt. Ihn jetzt zur Hauptfigur zu machen birgt also gleich mehrfach Risiken.
Zunächst einmal ist es meist nicht sonderlich spannend, wenn man weiß, zu was jemand wird und somit das Ende einer Entwicklung bekannt ist. Darüberhinaus funktioniert ein „böser“ Charakter nur in den seltensten Fällen als Protagonist, da das so wichtige Identifizierungspotential weitgehend ausfällt. Und schließlich sind es vor allem die Geheimnisse und nicht erklärten Abgründe, welche ikonische Film-Schurken so faszinierend machen. Das beste Beispiel für all diese Argumente ist die (versuchte) Aufdröselung des Charakters von Anakin Skywalker, besser bekannt als Darth Vader. Die Star Wars-Prequeltrilogie hat einem der ikonischsten Bösewichte der Filmgeschichte einen Bärendienst in Sachen Aura und Nimbus erwiesen, indem er ihn uns als nervigen Dreikäsehoch und unsympathischen Teenager/Twen präsentierte.
Auf dem Papier tappt das Hunger Games-Prequel in dieselbe Falle. Denn dort sollen wir erfahren, wie aus einem idealistischen 18-jährigen Kapitol-Studenten ein kaltherziger und brutaler Diktator wird. Ähnlich wie klein Anakin ist auch er trotz seines ausgeprägten Ehrgeizes anfangs gutherzig und mitfühlend. Er möchte nicht nur vorankommen, sondern auch seiner Großmutter und Schwester ein besseres leben ermöglichen. Trotz seiner überdurchschnittlichen Leistungen ist er im Kreis der Absolventen und potentiellen Stipendiaten ein Außenseiter, ein aus ärmlichen Verhältnissen stammender Emporkömmling. Deshalb hat er auch früh gelernt kreativ zu sein, auch wenn das bedeutet, Regeln und Gesetze auch mal zu beugen oder zu brechen. Diese speziellen Qualitäten sind dann auch gefragt, als urplötzlich die Bedingungen für das ersehnte Universitäts-Stipendium geändert werden. Denn nun genügt es nicht mehr, ein Abstimmungsgremium zu überzeugen, nun müssen alle Anwärter als Mentoren der diesjährigen Hungerspiele-Tribute antreten und wer dabei die beste Show liefert, gewinnt.
Die Idee nicht einfach einen weiteren Aufguss der perfiden Hungerspiele zu liefern, bei denen die Herrscher von Panem ihre Macht über die zwölf Distrikte demonstrieren, ist eine clevere. Dementsprechend klein fallen sie diesmal auch aus. Das macht doppelt Sinn, denn immerhin liegen 54 Jahre und damit 54 Hungerspiele zwischen beiden Geschichten, so dass eine ähnlich ausgeklügelte Hightech- und Parcours-Struktur für die 10. Spiele völlig unglaubwürdig wäre. Eine Enttäuschung ist die Reduktion auf lediglich einen Arena-Schauplatz sowie lediglich ein Drittel der Filmlaufzeit also keineswegs. Weit mehr als in der Originaltrilogie erleben wir hier die Geschichte der Hauptfigur sowie des Ursprungs der Spiele. Alles steht im Zeichen von „Wie es dazu kam“, wie die Hungerspiele zu dem wurden, was wir aus den späteren Filmen kennen und wie Coralianus Snow zu dem wurde, der er in den späteren Filmen ist.
„The Ballad of Songbirds and Snakes“ hätte leicht ein zweiter „The Phantom Menace“ werden können, die Parallelen von Hauptfigur und Story-Intention sind frappierend ähnlich. Zwar wird das Hunger Games-Prequel mit Sicherheit nicht am Box Office des Star Wars-Films kratzen, dennoch ist es der bessere Film. Und das liegt an Corialanus Snow beziehungsweise seinem Darsteller Tom Blyth. Anders als Hayden Christensen versteht er es meisterhaft als ambivalenter Jüngling zu faszinieren, der ständig am Grad zwischen Gut und Böse, zwischen Egoismus und Empathie entlang tänzelt und sich letztlich für die dunkle Seite entscheidet oder ihrem Einfluss nachgibt.
Er hat etwas sehr einnehmendes, wenn er sich um die Familie oder sein Tribut-Mündel Lucy Gray Baird sorgt. Wenn er mit großen Augen ebenso eindringlich wie verwundbar in die Kamera blickt verzeiht man ihm auch die ein oder andere Trinkerei, auch wenn sie für andere fatale Folgen hat. Dies Sympathie kippt erst, als er in einer aus Angst,-Selbstschutz und Ehrgeiz gespeisten Entscheidung seinen besten Freund opfert und damit auch die auf absolutes Vertrauen fußende romantische Beziehung zu Lucy gefährdet. Ab diesem Zeitpunkt ist es auch mit der Phase der Selbstfindung oder Selbsttäuschung vorbei und Snow erkennt, man könnte auch sagen akzeptiert sein wahres Ich.
Über zweienhalb Stunden geht der Film und das ist fast zu kurz. Nicht nur weil ein 600-Seiten Roman als Vorlage dient, sondern auch weil Coriolanus Snows Schurkenwerdung teilweise etwas sprunghaft und angedeutet wirkt. Die Liebesbeziehung zwischen Snow und der Wandermusikerin Lucy Gray funktioniert dank ihrer langsamen Entwicklung und des sympathischen Spiels von Rachel Zegler lange Zeit ganz gut, aber als sich erste Risse zeigen werden diese nur angedeutet und nicht mehr auserzählt. Wie viel sie ab wann über Coriolanus dunkle Entscheidungen und Gedanken wusste oder ahnte, bleibt nebulös. Der zuvor Verbannte Coriolanus wiederum verliert binnen der letzten Filmminuten seine Freundin, wird begnadigt, bereinigt eine alte Rechnung am Kapitol und positioniert sich in führender Position an den Schalthebeln der Hunger Games-Organisation. Diese urplötzliche Tempoverschärfung bringt den ansonsten gut durchkomponierten und dramaturgisch gut austarierten Handlungsbogen unnötig ins Schlingern und hinterlässt auch bei der Snow-Werdung des jungen Coriolanus das ein oder andere Fragezeichen. Dazu kommt, dass sämtliche weitere relevante Nebenfiguren entweder blass (Josh Andrés Rivera als Snows Freund Plinth), schematisch (Peter Dinklage wärmt als Panem-Dekan lediglich seine berühmte „Games of Thrones“-Rolle auf) oder überzeichnet (Viola Davis als Spielleiterin Dr. Gaul im Bond-Schurken-Modus) geraten sind.
Überflüssig oder gar beschädigend für die Originalfilme ist „Die Tribute von Panem -The Ballad of Songbirds and Shakes“ aber keineswegs. Corialanus Snow ist ganz sicher kein Filmschurke vom Format eines Darth Vader, aber dennoch hätte seine Charakterstudie ähnlich unbefriedigend ausfallen können. Ein viel besseres Skript, vor allem aber ein viel besserer Darsteller sorgen dafür, dass dem nicht so ist. Der relativ unbekannte Tom Blyth schafft den Spagat zwischen Sympathie und Abscheu, zwischen Faszination und Abschreckung und dürfte damit auch Donald Sutherland sein berühmtes diabolisches Lächeln aufs Gesicht zaubern. Panem-Fans und Hollywood-Erbsenzähler dürften beide zufrieden sein, eine Prequel-Trilogie wäre kein Schreckgespenst. Autorin Suzanne Collins hat bisher keine Anstalten gemacht, aber das war selten ein Hindernis. Panem et circenses hat eine lange Tradition.