Rund 20 Jahre lang, seit dem gefloppten und wenig begeistert aufgenommenen „Paycheck“, hatte John Woo keinen Hollywood-Actionfilm mehr gedreht. Mit dem experimentell angehauchten „Silent Night“ meldet sich der Action-Maestro nun zurück.
Der besondere Clou an diesem Rachefilm liegt darin, dass er quasi ohne Dialoge auskommt. Angemessen zackig und ohne große viel Federlesen steigt „Silent Night“ dann auch ins Geschehen ein: Brian Godlock (Joel Kinnaman) verfolgt im blutverschmierten Weihnachtspullover zwei Autos, aus denen heraus sich verfeindete Gangmitglieder mit Schusswaffen beharken. Die eine Truppe stirbt im Kugelhagel, den anderen Wagen passt der verzweifelte Mann ab, geht nur mit einer Eisenstange bewaffnet auf die Kriminellen los und kassiert von Bandenchef Playa (Harold Torres) einen Schuss in den Kehlkopf. Brian ist von nun an stumm, der Film ist es auf Dialogebene ebenfalls.
Eine Not-OP rettet Brians Leben, doch so richtig findet er nicht dorthin zurück. Denn der Grund, dass der Handwerker sich auf die Gangster stürzte, war der, dass sein siebenjähriger Sohn beim Bandenkrieg in die Schusslinie geriet und tödlich getroffen wurde. Brian verarbeitet den Verlust schlechter als seine Ehefrau Saya (Catalina Sandino Moreno), verkriecht sich in seiner Bastelgarage und trinkt. Körperlich heilt er langsam, seelisch gar nicht. Dass Mann und Frau quasi nur noch über Textnachrichten kommunizieren können, mag dem Ansatz des dialogfreien Actionfilms geschuldet sein, ist aber auch eine gute Verdeutlichung der Entfremdung, die stattfindet. Während Saya wieder zur Arbeit geht und versucht wieder ein zumindest einigermaßen normales Leben zu führen, kann Brian nicht loslassen, nicht wirklich kommunizieren, nicht verarbeiten.
Doch dann fasst der trauernde Familienvater einen Entschluss: Am Jahrestag der Ermordung seines Sohnes am nächsten Heiligabend sollen die Schuldigen mit dem Leben dafür bezahlen. Von da an setzt er all seine Energie daran sich auf diesen Tag vorzubereiten…
Das Poster von „Silent Night“ wirbt damit, dass dieser Film von „John Wick“-Produzenten stammt, wobei dies in diesem Falle nicht die Masterminds David Leitch und Chad Stahelski mit den Produktionsfirmen 87Eleven und 87North sind, sondern Basil Iwanyk und Erica Lee. Trotzdem ist das Ganze gewissermaßen ein Zirkelschluss: „Silent Night“ wäre vermutlich ohne den „John Wick“-Trend nicht produziert worden, stammt aber von jenem Regisseur, dessen Schaffen die „John Wick“-Reihe und deren Epigonen inspirierte. Im Direktvergleich zu dieser genreprägenden Reihe oder auch manchem früheren John-Woo-Werk gibt sich „Silent Night“ dann etwas weniger exzessiv, obwohl die Ein-Mann-Armee auch hier die Gegner immer noch scharenweise über den Jordan schickt. Gewisse „John Wick“-Einflüsse sind dem Ganzen nicht abzusprechen, gerade wenn Brian seine Fahrfähigkeiten übt und später am Steuer Fahr- und Schießkünste ähnlich perfekt zusammenbringt wie Keanu Reeves‘ aktuelle Paraderolle.
Nach eigener Aussage reizte Woo aber vor allem die Inszenierung eines dialogfreien Actionfilms, die „Silent Night“ konsequent durchzieht. Nicht nur Brian schweigt, auch alle anderen Figuren tun dies fast durchweg. Hin und wieder sind mal das Radio oder der Polizeifunk zu hören, an wenigen Stellen wird per Textnachricht kommuniziert und drei oder vier Mal fallen Einzelsätze wie ein „Fick dich“, das ein Schurke knurrt, aber wirkliche Dialoge gibt es tatsächlich nicht in diesem Film. Stattdessen erzählt „Silent Night“ mehr über den ausdrucksstarken Score von Marco Beltrami und seine Inszenierung. Regisseur Woo, Kameramann Sharone Meir und Cutter Zach Staenberg gelingen dabei einige starke visuelle Einfälle, etwa wenn von einer fallenden Träne Sayas auf eine fallende Patrone geschnitten wird oder eine von hinten angeleuchtete Schützin wie ein andersweltlicher Todesengel aussieht. Auch der Hang zum Pathos, das Melodramatische, teilweise am Rande zum Kitsch, darf bei Woo nicht fehlen, weshalb er bei der Inszenierung von Brians Trauer bisweilen etwas zu dick aufträgt. Andrerseits kann er die Verzweiflung und den Schmerz des Protagonisten in beinahe spürbare Bilder fassen.
Ähnlich reduziert wie die Dialogebene ist auch die Handlung des Films. Den Entschluss vom Trauerkloß zum Rächer zu werden begründet der Film nicht so wirklich, arbeitet dann aber ähnlich konsequent auf sein Ziel hin wie sein Protagonist: „Kill them all“ trägt Brian für den nächsten Heiligabend in den Kalender ein und setzt alles daran diesen Termin einzuhalten. So verbringt er große Teile des Films mit Fahr-, Nahkampf-, Schieß- und Muskeltraining, teilweise unter Anleitung, größtenteils im Selbststudium. So erscheint Nick Hume aus „Death Sentence“ diesem grimmigen Protagonisten näher zu sein als John Wick, ein Normalo, der aus Trauer zum Rächer wird. Das bedeutet allerdings auch, dass die ersten zwei Drittel in erster Linie zum Aufbau für die Eskalation auf der Schlussgeraden dienen. Brians Ermittlungen in Sachen Gangwesen sind zudem kaum der Rede wert und das Drehbuch Robert Archer Lynn leistet sich auch kleinere Klopse – Playa ist beispielsweise schon ein selten dämlicher Name für den Oberschurken.
Allerdings stellen Lynn und Woo ihre Hauptfigur nicht als strahlenden Helden und seinen Rachefeldzug nicht als cool dar, sondern brechen dies immer wieder etwas auf. So macht Brian Fehler, etwa wenn er einen Gangster bei sich zu Hause verhört, dieser sich befreit und es zu einem Kampf kommt, in dem nicht der Held, sondern sein Kontrahent eine Waschmaschinentür souverän nutzt. Wesentlich schwerer sind jedoch der Fehler und die Schuld, wenn Brian erkennen muss, dass ein von ihm angezettelter Bandenkrieg auch Polizisten das Leben kostet. Vor allem aber zeigt „Silent Night“ die Entfremdung zwischen Brian und Saya: Er lebt zu sehr im Gedenken an den Toten, sodass er die Lebende von sich fortstößt und seine Ehe nach und nach zugrunde richtet. Dieses Drama nimmt durchaus für sich ein und sorgt dafür, dass der Film noch eine zweite Ebene hat, die etwas interessanter als die reine Vorbereitung auf den Rachefeldzug ist.
Dieser kommt dann im letzten Drittel und beweist, dass Woo immer noch nichts verlernt hat. Es geht weniger exzessiv als früher zur Sache, was am Budget liegen mag, vielleicht aber auch an der Tatsache, dass der Altmeister der aktuellen Überbietungslogik im Actionkino etwas entgegensetzen möchte. Trotzdem dezimiert auch Brian die Drogengang, wenn er sich schießend, schlagend, ringend und schlitzend durch gut choreographierte Shoot-Outs und Fights kämpft, wenn er Auto und Motorrad als Vehikel und Waffe gleichzeitig einsetzt. Stunt Coordinator Jeremy Marinas leistet jedenfalls ganze Arbeit, während Woo das Ganze qualitativ hochwertig inszeniert. Allerdings fehlen die ganz besonders herausragenden Momente ein wenig – Woo bedient die gegenwärtigen Standards im Actionkino eher als dass er sie übertrifft oder neu definiert. Eine Konfrontation ohne sichtbare Schnitte in einem Treppenhaus macht schon was her, allerdings gehören One-Take-Sequenzen derzeit ja zum guten Ton im Actionfilm. Die Schießereien, die Nahkämpfe, die Autocrashs und die Verfolgungsjagden sind dennoch fast durchweg gelungen, zudem recht hart – lediglich der Showdown mit Playa ist schon eine kleine Enttäuschung, weil er vergleichsweise schnell vorbei ist. In klassischer Woo-Handschrift werden besondere Momente mit Zeitlupen akzentuiert, das beidhändige Ballern beschränkt sich auf eine Einlage im Finale, während man auf fliegende Tauben verzichten muss. Nur ein Papagei schaut vorbei, wenn Brian im Krankenbett liegt.
Mit Joel Kinnaman hat Woo einen passenden Hauptdarsteller für den Film gefunden, dem man sowohl den Everyman vom Anfang, das ausgemergelte Wrack nach dem Krankenhaus als auch den durchtrainierten Rächer am Ende abnimmt, wofür sich Kinnaman sichtlich in Form gebracht hat. Er verfügt zudem über eine stille Intensität, mit der er den entschlossenen Racheengel verkörpert, der wie ein Verwandter von Jean-Louis Trintignants schweigender Rächerfigur aus „Leichen pflastern seinen Weg“ wirkt. Kinnaman kann den Film tragen, der mit einem anderen Hauptdarsteller vielleicht gescheitert wäre. Catalina Sandino Moreno ist ähnlich gut, kleinere Akzente setzt Kid Cudi als Polizist, während Harold Torres als Schurke zwar fleißig Tätowierungen spazieren trägt und quasi jedes Latino-Gangster-Klischee abhakt, aber doch eher eine Luftpumpe bleibt. In einer Minirolle ist auch Angeles Woo, die Tochter des Regisseurs, zu sehen.
„Silent Night“ ist nicht die epochale Rückkehr John Woos mit einem neuen Meisterwerk, aber ein gelungener Genrevertreter, der von einem famosen Joel Kinnaman, einem erfrischenden experimentellen Absatz und den gelungenen Actionszenen lebt. Die ganz großen Wow-Effekte fehlen vielleicht, die Story ist extrem simpel und der Schurke schwach, aber dafür lässt Woo das Publikum effektiv an der Gefühlswelt des Rächers teilhaben. Nicht so wegweisend wie Woos Vorzeigewerke in Hongkong („The Killer“, „Hard-Boiled“) und Hollywood („Harte Ziele“, „Face/Off“), auch nicht ganz so gut wie „John Wick“ und „Tyler Rake: Extraction“, aber dennoch überzeugender Vertreter seiner Zunft.