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Der alte Mann hatte die Grenze zu Louisiana fast erreicht, als er auf der anderen Seite der Interstate die Frau und das Kind gehen sah; die Frau hatte einen Müllsack geschultert, und das Kind trottete hinter ihr her. Im Vorbeifahren schaute er zu ihnen hinüber und beobachtete danach im Rückspiegel, wie die Autos an ihnen vorbeizogen, als seien sie Straßenschilder. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen Himmel, und wenn er eines wusste, dann dass ihnen heiß war. Also bog er bei der nächsten Ausfahrt ab, nahm die Brücke über die I-55 und fuhr zurück Richtung Norden. Es waren einige Kilometer bis zu der Stelle, wo er sie gesehen hatte, und er hoffte, dass sie eine verdammt gute Erklärung für das hatten, was sie da taten. Als er sich ihnen näherte, fuhr er langsamer. Sie gingen im Gras, das Mädchen schlug sich ständig mit der Hand an ihre nackten Beine, und die Frau ging gebeugt unter dem Gewicht des Müllsacks. Er lenkte auf den Randstreifen und hielt hinter ihnen an, doch weder die Frau noch das Mädchen drehten sich um. Also parkte er und stieg aus. »Hey!« Sie blieben stehen und schauten ihn an, als er zu ihnen hinüberging. Ihre Wangen waren rot und verschwitzt von der Hitze, und unter den blonden, fast weißen Haaren des Mädchens bemerkte er Spuren eines Sonnenbrandes. Beide trugen Shorts und Tanktops, ihre Schultern waren pink und die Beine voller Insektenstiche und Kratzer vom Gehen im rauen Gras des Seitenstreifens. Die Frau ließ den Müllsack fallen, der dumpf auf dem Boden aufschlug.

Die Rollenauswahl von Mel Gibson in den letzten Jahren ist durchaus interessant, aber nicht wirklich nachvollziehbar; zuweilen wird als Unterstützung für andere (Semi)Prominenz gearbeitet, mal scheint man die Drehbücher vom aus dem Filmgeschäft krankheitsbedingt ausgestiegenen Bruce Willis übernommen zu haben, und mal versteckt man sich in derart kleinen Produktionen, dass von diesen von vornherein schon kaum Kenntnis, auch nicht oder wenn dann nur überhaupt eingeschränkt wegen Gibson selber genommen wird. Desperation Road ist einer dieser unter dem Radar laufenden Werke, die anderen beiden (jüngeren) Personen auf dem Cover und in der eigentlichen Hauptrolle haben zeitgleich in jeweils ähnlichen wie Pfad der Vergeltung (2022) oder Das Erwachen der Jägerin (2023) und dort auch nicht als Erstgenannte agiert; hier quasi die Mittelverbindung dazu und die Überschneidung, Provinzialthriller aus der Isolation Amerikas, Proletariermilieu und Kleinstadtleben:

Die junge Maben [ Willa Fitzgerald ] ist alleinerziehend mit ihrer Tochter Annalee [ Pyper Braun ] auf der Suche nach einem besseren Leben nach Mississippi unterwegs, zu Fuß, arbeits- und oft auch obdachlos. Als sie eines Nachts von einem Police Officer missbraucht wird und zusätzlich sich noch für einen 'Gangbang' bereithalten soll, greift sie zu der Waffe des Polizisten und erschießt diesen. Auf der Flucht kidnappt sie den frisch aus dem Gefängnis entlassenen Russell [ Garrett Hedlund ], der die beiden Verängstigten und Ausgehungerten bei seinem Vater Mitchell [ Mel Gibson ] und dessen neuer Frau Consuela [ Paulina Galves ] unterbringt, aber auch eigene Probleme hat. Nicht bloß, dass er ein enger Freund mit dem Polizisten Deputy Boyd [ Woody McClain ] ist, welcher natürlich den 'Mörder' seines Kollegen sucht, auch macht ihn der gewalttätige und oft trunkene Larry [ Ryan Hurst ] sowie der weniger engagierte Walt [ Michael Aaron Milligan ] für den Tod seines Bruders vor Jahren verantwortlich und will seine Rache.

Lionsgate ist (natürlich) für die Distribution dessen zuständig und Grindstone, das kommt einem bekannt vor, und das kennt man schon. Der Rest der eigentlich den Film produzierenden, initiierenden, installierenden Studios kennt man im Grunde nicht, so richtig Geld steckt nicht in der Finanzierung, auch nicht geschlossen und zusammen gelegt. Gibson selber wird noch das Meiste vom Budget verschlungen haben, ansonsten eröffnet man stilecht mit einem sonnendurchfluteten Gang durch die Felder und Wiesen, mit einem Voice Over natürlich, bedeutungsvoll und philosophisch, verloren wirkend und eher Fragen stellend als erklärend. Man will nach Mississippi, bis dahin noch ein weiter Weg, man ist jetzt schon oder noch in einer gottverlassenen Gegend, man hat schmutzige Kleidung und wenig davon nur am Leib, und dies sind auch die einzigen Habseligkeiten, die man bei sich führt und mit denen man durchs Leben streift. Einen schönen Gruß an das Sozialsystem demnach, Mutter und Tochter auf der Desperation Road des Landes, die Gliedmaßen müde und dreckig, die Lebensmittel werden mehr geklaut als bezahlt, die kriminellen Handlungen früh erlernt, da zum Überleben nötig. Die wenigen Geldscheine werden täglich weniger, noch reicht es für eine warme Bleibe wenigstens die Nacht über, werden aber bereits andere Mittel und Wege zum Verdienen von wenigstens einigen Dollars überlegt und auch anvisiert, der Verkauf des eigenen Körpers, die letzte Hürde, die letzte Abschreckung. Auf Hilfe anderer Mitmenschen kann man nicht hoffen, im Gegenteil, selbst das Gesetz wird übergriffig, 'Freund und Helfer' hier entpuppt sich als Aggressor und als Feind.

Leise öffnete und schloss Maben die Tür des Motelzimmers. Sie hatte sich bereits für einen Lkw entschieden, ein blauer mit der Flagge der Konföderierten auf dem Kühlergrill, und steuerte nun direkt darauf zu. Sie kletterte auf die Stufe an der Fahrerseite. Die Vorhänge waren zugezogen. Drinnen war es dunkel. Sie berührte mit den Fingerspitzen die Scheibe. Erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild. Ihr Kind schlief keine fünfzig Meter entfernt. Ihr war jetzt schon schlecht. Dann zog sie ihre Hand vom Fenster zurück. Biss sich auf die Lippe und redete sich ein, darauf zu vertrauen, dass es morgen besser werden würde. Dass sie Hilfe finden würde. So fängt man nicht noch mal ganz von vorne an. Und sie stieg wieder von dem Lkw hinunter und berührte den Zimmerschlüssel in ihrer Tasche. Als sie sich umdrehte, um zu ihrem Zimmer zurückzugehen, sah sie den Streifenwagen. Er war mit ausgeschalteten Scheinwerfern auf den Parkplatz gerollt und stand nun im Leerlauf dort, während die Silhouette hinter dem Steuer sie beobachtete.

Das Land ist korrupt und am Ende, die Existenz mehr Kampf und Qual als alles andere, es wird täglich innerlich mehr gestorben, eine Vergewaltigung auf dem Rücksitz eines Streifenwagens als die erste Schocksequenz, damit fängt die Nacht erst an, damit ist sie nicht zu Ende. Eine Verzweiflungstat folgt, eine emotionale Krise, der vorübergehende Bruch einer Bindung, die sich gegenseitig unterstützt und zum Atmen wie die Lungen die Luft, und das den stetigen Blutkreislauf braucht. Als Drama wird das begonnen (und beendet), gestrandete Seelen, leere Blicke, die auf ebensolchen leere oder zerstörte, auf verwahrloste und ruinöse und isolierte Gegenden blicken, "Home, sweet fucking home.", gedreht wurde (in etwas über zwei Wochen, nach Michael Farris Smith' gleichnamigen Roman) in Louisville, Kentucky, Gewalt, Alkohol und Armut überall, die Empathie geht vor die Hunde, ein Suhlen im Elend, ein Wühlen mehr nach Verzweiflung statt nach Hoffnung, Pessimismus und Realismus im Einklang, zumindest hier im anfänglich parallelen Erzählen. Die Bibel wird erwähnt, die Religion als Teil der Erziehung, der Glaube(n), der sich über die Jahre der Erkenntnisse gewandelt hat, die Geschichten von früher, der heutige Zustand. Gibson kommt nach zwanzig Minuten schon mit hinein in die Handlung, er ist quasi die Zuflucht, die Belebung auch, er ist der mit der Lebenserfahrung, dem Rückzugsort, der Trutzburg. "I don't recall anything about no hunting rifle in the New Testament." - "Well, you can only turn so many cheeks, and I only got four, so..." - "I'd be breaking about two dozen laws just by having it."

Eine Kreuzung von Schicksalen, die Örtlichkeit dieselbe, irgendwie auch das bisher Erlebte, und vor allem das zukünftig zu Erlebende, die Bewandtnis des Ganzen ist dabei länger nicht zu erfassen, die Intention von Drehbuch und Regie, auch wenn eine Persönlichkeit angestrebt werden soll und eine Intimität, eine Dramatik und eine Skizze einer bestimmten Ära und einer bestimmten Szenerie. Darstellerisch werden dabei einige gute Momente geboten, so ist nicht, auch wird manchen Antagonisten ein Raum für Charakterisierungen geboten und Motivationen, was eher ungewöhnlich ist. Es wird viel nach dem gegenseitigen Befinden gefragt, es wird viel geantwortet, der Film hat eine bestimmte Sorte 'Tempo', er nimmt sich viel Zeit, er ist nicht drängend, er möchte gerne gründlich sein, was zu Wiederholungen und Hinauszögern führt und zu einer gewissen Behäbigkeit bis Zähigkeit, die erzählten Tage vergehen, die Filmminuten nicht. Fast eine Stunde braucht es bis zum Zusammentreffen der wichtigsten Komponenten, bekanntes wird erneut wiederholt, unbekanntes einfach nur mit "you know..." bestückten Satzbrocken 'gelallt'; ab da an kommt auch Gibson wieder in das Spiel, dritter Akt, zweite Szene, vorher und zwischendurch nicht. Das ist gut gemeint, zieht sich aber ordentlich, das ist recht White Trash, schmutzige Unterhemden, viel Alkohol, viel zu viel Gesagtes, zu viel wiederholtes, viel unnötig kompliziertes, viel Schuld und Sühne, anstrengend und sich im Elend quälend.

Wenn erst einmal etwas anfing schiefzulaufen, wurde es immer schlimmer, hatte sie festgestellt. Das Unheil breitete sich aus wie wilde, giftige Ranken, die sich über die Kilometer und Jahre erstreckten – von den zwielichtigen Gestalten, die sie gekannt, über die Grenzen, die sie überschritten hatte, bis zu den Dingen, die Fremde in ihr hinterlassen hatten. Die Ranken breiteten sich aus, bis sie sie überzogen und verschluckt hatten, wickelten sich um ihre Knöchel und um ihre Oberschenkel, um ihre Brust, ihren Hals, die Handgelenke und zwischen den Beinen hindurch, und als sie auf das Mädchen mit seinem Sonnenbrand auf der Stirn und den dünnen Ärmchen hinabsah, wurde ihr klar, dass das Kind nichts weiter war als ihre eigene schmutzige Hand, die sich in einem letzten verzweifelten Versuch, nach etwas Gutem zu greifen, aus dem Dickicht herausstreckte.








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