1946 knackte „Yannick“ in Frankreich erstmals die Liste der 100 beliebtesten männlichen Vornamen. Von 1972 bis 1974 erreichte er dann mit Platz 31 den Höhepunkt seiner Popularität. Danach ging es gemächlich abwärts. Aber selbst 1991 gehörte Yannick noch zu den Top 100.
In jenem Jahr wurde übrigens auch Schauspieler Raphaël Quenard geboren. Das ist deswegen erwähnenswert, weil Quenard 2023 einen Yannick spielte, und zwar in einem Film von Quentin Dupieux, der ebenfalls „Yannick“ heißt. Also der Film, nicht Quentin Dupieux. Was das angeht, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es der erste nicht-dokumentarische Spielfilm mit diesem Namen überhaupt ist. So viel Innovation muss man diesem Regisseur eben immer zutrauen. Denn Filme sind schließlich keine Menschen. Und doch heißen sie manchmal so.
Dabei wäre von einem Yannick paradoxerweise nie die Rede gewesen, wenn in Filmen immer alles mit rechten Dingen zugehen würde. Die Hauptfigur des Films, der ohne die typischen Wendungen eines solchen einfach nur ein abgefilmtes Theaterstück geworden wäre, ist schließlich nur ein einfacher zahlender Gast im Saal. Unter normalen Umständen würde er für die Dauer der Vorstellung auf seinem Sitz herumrutschen, gegebenenfalls am Ende höflich applaudieren und anonym nach Hause gehen. Er hätte auch Kevin, Thomas oder Alexandre (Platz 1-3 des Jahres 1991) heißen können, wir hätten es nie erfahren. Aber nein, Yannick gefällt das Stück nicht. Und er gedenkt, dies vor allen anderen kundzutun. Mitten in der Vorstellung. Und prompt öffnet sich vor unseren Augen die längst im Voraus erwartete Dupieux’sche Metaebene wie ein Portal aus „Stargate“, mitten hinein in die Selbstreferenzialität.
Bevor Yannick also in Minute 7 vor lauter Ungeduld von seinem Platz aufspringt und sich beschwert, unterscheidet sich das Gezeigte kaum von einem handelsüblichen Live-Mitschnitt eines echten Bühnenstücks, eingefangen mal aus Perspektive der Zuschauerränge, mal in der Halbnahen aus der Kulisse heraus und mal mit Gegenschnitt zurück auf das Publikum, um die Präsentation als schauspielerische Aufführung zu entlarven. „Le Cocu“ müsste der Titel zu diesem Zeitpunkt gerechterweise noch lauten, so wie das hier präsentierte Stück über einen gehörnten Mann (Pio Marmaï), der soeben erfahren hat, dass er von seiner Frau (Blanche Gardin) betrogen wurde, nicht unähnlich dem Stoff aus dem gleichnamigen Roman von Paul de Kock aus dem Jahr 1831. Gut bürgerlich eben, den französischen Querschnitt abbildend; ganz wie Yannick selbst, der hoffnungslos überarbeitete Parkwächter, der 45 Minuten mit Verkehrsmitteln und weitere 15 Minuten zu Fuß anreisen musste, um schlussendlich dieses seinem Empfinden nach schlecht geschriebene Stück über sich ergehen zu lassen.
Um zunächst ein Höchstmaß an Neutralität zu gewährleisten, ist Dupieux in den Anfangsminuten darum bemüht, den Surrealismus zu zügeln, den er in seinen Arbeiten sonst so großzügig einsetzt. Gedreht wurde binnen einer knappen Woche ausschließlich an einem Set, und zwar einem Originalschauplatz, dem Théâtre Déjazet, das im nordöstlichen Stadtkern von Paris steht. Der Regisseur nutzt die Kulisse in all ihrer Extravaganz, aber zugleich auch in ihrer Trostlosigkeit, wirkt sie doch nach wie ein Relikt aus der Vergangenheit, das von glorreichen Zeiten erzählt, in der Gegenwart jedoch allenfalls noch schimmert wie eine einzelne Kerze in einer Höhle. Es herrscht Kahlschlag zwischen den Zuschauerrängen, nur drei Darsteller stehen, sitzen und laufen in einfacher Alltagskleidung auf der Bühne herum, chargierend vor einem Dekor bestehend aus Tisch und Stuhl, das man wohl als den Inbegriff von Minimalismus bezeichnen könnte. Von zusätzlichem Personal (Bühnentechniker, Musiker, Assistenten…) weit und breit keine Spur, abgesehen von der Dame an der Garderobe. Wie bei einem selbstorganisierten Kurs in den Abendstunden mutet die Atmosphäre an.
Die sozialen Regeln, zu denen sich alle Beteiligten des Abends stillschweigend verpflichtet haben, würden es normalerweise erfordern, die trostlose Stimmung unkommentiert zu lassen, doch in dem Moment, als der Querulant in der Mitte des Saals seine Klappe aufreißt, betritt Quentin Dupieux Polanski-Land. „Der Gott des Gemetzels“ und „Venus im Pelz“ sind jedenfalls ganz nah, wenn Yannick schließlich durch die Sitzreihen schlurft und nicht nur die Darsteller auf der Bühne, sondern auch die anderen Zuschauer gezielt bloßstellt, Charaktereigenschaften entlarvt und Persönlichkeitsprofile verhöhnt, ohne sich selbst, Yannick, auch nur eine Sekunde zu reflektieren.
Dupieux nutzt dabei die Stockholm-Syndrom-Schablone im Gewand einer Komödie als Rahmen, indem er versucht, in die Psychologie des Sonderlings einzutauchen, der sich eigenmächtig über alle geltenden Konventionen hinwegsetzt. Letztlich verdreht er diesen Ansatz aber in eine Farce, weil sich Yannick (auch dank der herrlich ignoranten Performance von Raphaël Quenard) als unerträglicher Egozentriker herausstellt, bei dem sich das Eintauchen im Grunde gar nicht lohnt. Spätestens, als eine Person die andere als achteinhalbjähriges Kind bezeichnet, ganz offenbar eine unverhohlene Anspielung auf Federico Fellinis „Achteinhalb“ (1963), macht sich Dupieux der Thematisierung autobiografischer Züge sichtbar: Ist er selbst der nicht anwesende Autor des kritisierten Bühnenstücks? Ist Yannick, dieser Repräsentant des unscheinbaren französischen Querschnitts, der sein Leben in einem Job verbringt, in dem ihn niemand sieht, nicht zugleich ein Gleichnis auf den anonymen Mob, der sich hinter den Avataren aus sozialen Medien oder sonstigen digitalen Knotenpunkten versteckt, um auszuteilen, ohne einzustecken?
Der Ansatz ist definitiv reizvoll, zumal die Live-Situation einige Deutungsmöglichkeiten birgt, was den kreativen Prozess des Schreibens und den Einfluss der Erfahrung auf Inhalt und Stil angeht. In der Ausführung erreicht er aber nie die Durchschlagskraft etwa der erwähnten Polanski-Werke, sondern bleibt mitunter selbst in seiner Meta-Ebene im behaupteten Durchschnitt der Schreibe von „Le Cocu“ verhaftet. Dass der ignorante Kritiker aus der Mitte der Gesellschaft mit seinen eigenen bizarren Schreibversuchen nichts Besseres zustande bekommt, ändert an dieser Tatsache nichts; „Yannick“ mag zwar einige unvorhersehbare Wendungen nehmen, weil er allzu klassische Drehbuchmanöver nicht bereit ist mitzugehen, sondern sie radikal aus dem Bildkader verbannt, selbst wenn das heißt, dass die anrückende Spezialeinheit letztlich gar kein Chaos anrichten darf an diesem Abend. Um öde Hausmannskost nach Schema F handelt es sich also gewiss nicht, wann war das bei diesem Regisseur auch je der Fall. Jedoch fällt ihm, der hier nicht nur Regie führte, sondern auch schrieb, produzierte, die Kamera bediente und den Schnitt anfertigte, nicht vieles ein, was wahrhaftig mal aus dem Bild springen dürfte, um die erweiterten Zuschauerränge jenseits der Mattscheibe zu erreichen. So wie es bislang Reifen, Lederjacken, Riesenfliegen und Zeitlöcher für ihn erledigt haben.
Darüber hinaus ist von einem Spielfilm ohnehin nur noch im erweiterten Sinne zu sprechen. So trocken, theoretisch, unfilmisch und kurz angebunden war selbst Dupieux vermutlich noch nie. Und doch lässt sich eben auch aus dem Rohentwurf noch Ergiebiges ziehen, wenn nur die Idee dahinter genug Potenzial besitzt. Darüber, wie gut „Yannick“ als Film geworden ist, kann man sich streiten, aber „Yannick“ als Idee war das Experiment wert.