Mit dem Rechen durchs Unterwelt-Unkraut, oder "Trennverfahren auf die ruppige Art"
Die gute Nachricht zuerst: Action ist wieder in. Die schlechte: Es kracht nur noch selten im Kino, dafür umso häufiger auf der Streaming-Couch. Jetzt könnte man natürlich sagen, sei doch zufrieden, dass das Krawumm-Genre nach seiner Glanzzeit in den 1980er und 90er Jahren endlich wieder ordentlich durchlädt. Schließlich musste man allzu lange mit den kinderfreundlichen Kloppereien und blutleeren Ballereien der nimmer enden wollenden Flut an Jumpsuit-Helden vorlieb nehmen, wollte man zumindest ein wenig schwitzige und bleihaltige Luft schnappen. Dass wir heute endlich wieder befreit durchpusten können, verdanken wir natürlich in allerster Linie Wick - also nicht dem Hustenbonbon, sondern dem Killer -, da verbietet sich jedwede Nörgelei. Eigentlich, womit wir wieder bei der schlechten Nachricht wären.
Der Siegeszug des schwarzen Mannes hatte nicht nur die Actionfans elektrisiert, sondern natürlich auch Produzenten und Filmfirmen. Ganz offenbar ließ sich mit mit Handkanten, Feuerwaffen und allerlei anderem Mordwerkzeugen wieder ordentlich Profit machen, also hieß es allerorten Durchladen und Losfeuern. Für solche Spektakel braucht es allerdings das entsprechende Kleingeld, sonst gerät man schnell aufs Abstellgleis der DTV-Discountware, die an der Verramschung des Genres nicht ganz unschuldig waren und sind. Über prall gefüllte Kriegskassen verfügen die verbliebenen Großstudios jenseits des Mäusekonzerns aber schon länger nicht mehr und da kommen die Straeminggiganten ins Spiel. Und so kauften sie fröhlich große Namen wie Michael Bay, Dwayne Johnson, Ryan Gosling und Reynolds oder die Marvelschen Russo-Brüder und rührten ihre filmische Systerm-Gatsronomie an. Adrett angerichtet, auf die Geschmacksnerven der Masse getrimmt und für den schnellen Konsum auf der Feierabendcouch konzipiert.
Ob „Red Notice“, „6 Underground“, „The Gray Man“, überall krachte es an allen Ecken und Enden, aber wenn sich der Rauch verzogen hatte, waren Kopf und Magen so leer wie zuvor. Fairerweise muss man sagen, dass es zumindest eine Ausnahme im Ballerlei der Streamer gegeben hatte und die hörte auf den klangvollen Namen „Tyler Rake : Extraction“. Auch wenn man sich hier mit Hauptdarsteller Chris Hemsworth (Thor) und den produzierenden Russo-Brüdern (Avengers: Endgame) mit die größten Fische aus dem Marvel-Teich schnappte, so war das Endprodukt doch sehr weit vom typischen Familienausflug ins Superdheldenparadis entfernt. Brutal, dreckig und zynisch ging es zu, vor allem aber war hier einer am Werk, der Action wirklich zelebrieren wollte (und konnte), anstatt sie dem angemieteten Rechenzentrum zu überlassen.
Sam Hargraves - und das verbindet ihn mit John Wick-Mastermind Chad Stahelski - hat sein Handwerk als Stuntman und Stuntkoordinator gelernt und diesen Workingclass-Backround bringt er voll mit ein. Seine Kampfchoreographien zeichnet aus, dass sie nicht wie solche aussehen, sondern sich trotz aller Übertreibungen „echt“ anfühlen. Wenn der Titelheld sich durch Heerscharen gegnerischer Profikiller pflügt, dann ist man mittendrin anstatt nur dabei. Dazu lieferte er mehrminütige Plansequenezn die so atemlos geschnitten und einfallsreich geschrieben sind, dass man danach auch als Zuschauer eine Ruhepause brauchte. Der einzige Wermutstropfen des Films - sieht man mal von der enorm simplen Search- and Rescue-Handlung ab - war seine exklusive Auswertung auf dem heimischen Bildschirm.
Dem angekündigten Sequel durfte man also durchaus freudig entgegen sehen und - wieder die gute Nachricht zuerst - tatsächlich wartet es mit sämtlichen Stärken des Originals auf. Hargraves entfesselt erneut ein infernalisches Actionspektakel, das abgesehen vom allmächtigen Wick keinerlei Konkurrenz zu fürchten bruacht. Davor, dazwischen und danach muss es allerdings auch so etwas wie eine Story geben und die ist ähnlich banal und formelhaft wie im Vorgänger. Joe Russo hat schon bei seinen Marvel-Skripts nicht gerade preisverdächtig geplottetd, dementsprechend simpel geht es auch hier zu.
Im direkten Anschluss an Teil 1 sehen wir den völlig zusammengeschossen Rake zunächst im Koma, dann auf Reha und schließlich im vermeintlichen Ruhestand in irgendeiner Einöde der österreichischen Alpen. Eigentlich ist er ausgiebig damit beschäftigt seine seelischen und körperlichen Wunden zu lecken, aber wie es der Zufall will, kommt ein neuer Auftrag daher, der sogar noch eine persönliche Komponente bereit hält. Rakes Schwägerin sitzt mitsamt ihren Kindern in einem georgischen Knast ein, weil ihr Warlord-Ehemann sie bei sich haben will. Irgendwie schafft sie es, einen Hilferuf zu senden, und da Rake seinerzeit Frau und todkrankes Kind für einen Auftrag verlassen hatte, fühlt er sich doppelt verpflichtet. Also wirft er die Krücken weg und startet ein sechswöchiges Trainingsprogramm, das auch Rocky Balboa gefallen hätte. Sollte allerdings eine solche Blitztransformation tatsächlich funktionieren, wäre der Kurs auf Jahre ausgebucht, aber Logik gehört nicht zu den Kernqualitäten der Rake-Reihe.
Nach den folgenden 20 Minuten hat man den Stolper-Auftakt ohnehin längst vergessen, denn was Hargraves hier zunächst im georgischen Dungeon-Knast und später auf einem gepanzerten Schnellzug entfesselt, toppt sogar noch die Extraktion im Vorgängerfillm. Hier kommt, über diverse Schuss-, Hieb- und Stichwaffen wirklich alles zum Einsatz, was man sich nur so vorstellen kann und noch ein paar Dinger, die man sich nicht vorstellen kann. Dazu gibts irre Perspektiven aus und in Autos, Hubschraubern und dem besagten Zug. In all dem Chaos verliert man dennoch nie den Überblick und wird auch nie mit derselben Perspektive oder Idee abgespeist. Und das gilt für den gesamten Film. Sicher, der Bösewicht und seine Privatarmee sind nur Mittel zum Zweck. Die Rückblenden in denen die traumatische Kindheit der beiden Warlord-Brüder gezeigt wird, ist so ergreifend wie eine Pilcher-Geschichte. Auch das „Wir schauen mal kurz vorbei und sind dann wieder weg“-Verhalten der österreichischen Polizei angesichts des dritten Weltkriegs im Wiener Wolkenkratzer DC 1 zeugt nicht gerade von großem Plausibilitätsinteresse seitens des Drehbuchs.
Wie dem auch sei, „Tyler Rake Extraction II“ hat andere Qualitäten. Leider gibt es die auch diesmal wieder nicht auf der großen Leinwand zu bewundern. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Mit Idris Elba als neuem Auftraggeber und Olga Kurylenko als Tylers Ex-Frau wurde der Rake-Kosmos schon mal um zwei Kinoerprobte Actionexperten erweitert. Weitere Extraktionen bemitleidenswerter Opfer aus den Klauen hassenswerter Schurken wird es also in jedem Falle geben und das sollte als zweite gute Nachricht erst einmal genügen.