Bombastischer Geschichtsunterricht
Mit „Tenet“ und zum Teil auch schon „Dunkirk“ hatte Christopher Nolan bei einigen die Türen der Zugänglichkeit angelehnt, eventuell sogar zugeschlagen. Das war schon deutlich vom Mainstream und der recht zügigen Verständlichkeit eines „Inception“ entfernt. Da war es besonders fraglich und spannend, ob er mit einem dreistündigen Kriegs- und Wissenschaftsepos über die Entstehung der Atombombe und dem Wettlauf gegen die Nazis auch nur annähernd die Massen ansprechen können wird. Durch engtaillierte Rückendeckung in Pastelltönen scheint dies nun zu gelingen, ein Nerv in einer unsicheren Zeit getroffen worden zu sein und „Oppenheimer“ schlägt passenderweise ein wie… ihr wisst schon wie. Kann einen das verkappte Biopic des „Mr. Tod persönlich“ wirklich wegblasen? Ist es vielleicht doch nur pompöser Unterricht eines längst abgehobenen Starregisseurs? Oder ist’s Mr. Nolans bisher persönlichstes und wichtigstes Werk, starbesetzt und porentief durchdacht, verdichtet, fühlbar, meisterhaft?
Tick… Tick… Zisch
Um es gleich zu beantworten und vom Tisch zu nehmen: „Oppenheimer“ ist eine Wucht, „Oppenheimer“ wirkt nach, er wird im Kopf immer besser und biestiger, desto länger man ihn ziehen lässt oder gar öfters sieht. Er ist auch klar der (noch) bessere Film als „Barbie“, obwohl ich den auch toll finde und das gar kein Konkurrenzkampf sein sollte, sondern beide exzellent koexistieren oder wie man sieht gar marketingtechnisch fusionieren können. Also diese Einschätzung nur um das Puppenthema kurz zu streifen. Zurück zum Bombenfilm. „Oppenheimer“ zeigt wie spannend Dialoge, lange Flure, Pressekonferenzen, Tafelkreide, Wissenschaft und alte, weiße Männer sein können. Vielleicht saß ich bei Dialogen, Monologen und unkommentierter Mimik mehr auf der Sitzkante denn je. Ich war fasziniert, elektrisiert, involviert. Und tief beeindruckt, gezeichnet, mitgenommen nach diesen nie langweiligen 180 Minuten. Der Score ist (im O-Ton) eine absolute Wucht, fast überlagernd und zerschmetternd. Es gibt Stars an jeder Ecke. Vielleicht ist „Oppenheimer“ der bestbesetzte Film aller Zeiten. Solch einen Auflauf hat man lange nicht mehr gesehen, vielleicht seit goldenen Hollywoodzeiten mit „The Longest Day“ und Konsortien. Hier werden zum Teil Oscarpreisträger für nur ein paar Worte eingeflogen - wahnsinn! Und wenn Nolan ruft, kommt nicht nur jeder, es spielt auch jeder groß auf. Mächtiges Kino in all seinen Facetten und Formen. Dialoglastig und doch nie trocken. Damon bringt die benötigte Auflockerung, RDJ setzt seiner Karriere vielleicht die Krone auf und beweist nach dem MCU, dass er es noch kann, wenn es drauf ankommt. Murphy in einer lang verdienten Hauptrolle zu sehen tut jedem Filmfan in der Seele gut. Sein Gesicht spricht Enzyklopädien, seine stahlblauen Augen funkeln mit zischenden Atomen um die Wette. Emily Blunt sticht ebenfalls heraus und wird während des Films immer wichtiger, kräftiger, kaum wieder zu erkennender. Die pugh'schen Nackt- und Sexszenen sind kaum der Rede wert. Und die elementare Bombenzündung als Höhepunkt erinnert mich von Dynamik, Power und Gänsehaut stark an solche unvergesslichen Momente wie die Ankopplungsszene in „Interstellar“.
Schaulaufen um kurz vor 12
Ich hatte nur gröbstes politisches oder gar wissenschaftliches Vorwissen, was meinem Film- und Infogenuss fast noch zu Gute kam. Das letzte Viertel ist erstaunlich antiamerikanisch und höchst akut. Ein Warnschuss und eine letzte Einstellungen, die der Menschheit zu denken geben sollten. Zudem hat Nolan noch seine erste echte „Horrorszene“ eingebaut, mit der euphorischen US-Reaktion auf die tausenden Toten in Hiroshima und Nagasaki. Ich bin baff. Ich war sogar etwas am Zittern. Ich war nach „Oppenheimer“ aufgewühlt, beeindruckt und mitgenommen. Gezeichnet fast. Das letzte Viertel streckt sich minimal in politischen Intrigen und verliert ein wenig Zug, Fokus, Konzentration auf seine titelgebende Figur oder die bis dahin vorherrschenden Themen. Dennoch ist das insgesamt ein spürbar wichtiger, warnender und meisterhafter Politthriller, ein Biopic wie kein anderes, ein Schauspielensemble für die Ewigkeit, ein (leider) zeitloses Thema und Nolan in Topform. Allein Oppenheimers Gespräche mit Einstein sind jeden Preis wert - einschüchternd gut!
Fazit: nie war recht theoretische Historie spannender. Nie war Horror realer. Nie war ein Score spürbarer. Nie war Nolan konzentrierter. Nie waren viele der Darsteller besser. Und nie war ein Bombe gefährlicher. Oft hat Nolan betont, man soll seine Werke eher fühlen als verstehen. In „Oppenheimer“ ist mir und ihm das so gut gelungen, wie seit langem nicht mehr.