iHaveCNit: Poor Things (2024) – Yorgos Lanthimos – Searchlight Pictures
Deutscher Kinostart: 18.01.2024
gesehen am 20.01.2024
Arthouse-Kinos Frankfurt – Cinema – Lumiere – Reihe 9, Platz 17 – 17:15 Uhr
Manchmal frage ich mich, wie ich meine schriftlichen Gedanken zu einem Film einleiten soll. Aber bei dem griechischen Regisseur Yorgos Lanthimos fällt mir nur ein - „The Lobster“, „The Killing of a Sacred Deer“ und „The Favourite“ - mit dem Blick auf diese 3 Filme muss man eigentlich nicht mehr sagen und nach dem ich seinen neuen Film „Poor Things“ gesehen habe, ist es eigentlich auch ein „Poor Thing“, dass ich sein früheres Werk noch nicht gesehen habe. An der Stelle bin ich auch so gewagt schamlos wie der Film genau dieses Wortspiel durchaus noch einmal an späterer Stelle zu bringen. Mit „Poor Things“ habe ich bereits das zweite große filmische Highlight des Jahres erleben können, wobei ich über das erste Highlight in 2024 erst kommendes Wochenende schreiben werde.
Der Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter hat im Rahmen eines Experiments eine tote Frau wiederbelebt, die er Bella nennt. Bella Baxter, die sowohl körperlich als auch geistig noch auf dem Stand eines Neugeborenen ist, entwickelt sich von Tag zu Tag weiter und wird daher noch von Godwin der Öffentlichkeit vorenthalten. Bis der junge Wissenschaftler Max McCandles ebenfalls seine Forschungen an Bella Baxter vornehmen darf und sich dabei in Bella verliebt und sie heiraten möchte. Die vertragliche Seite soll der windige Anwalt Duncan Wedderburn übernehmen, der ebenfalls für die sich mittlerweile sexuell öffnende Bella eine Faszination entwickelt und mit ihr um die Welt reisen möchte. Noch ahnt er nicht, in welche Richtung sich Bella auf dieser Reise entwickeln wird.
„Poor Things“ von Yorgos Lanthimos ist eine filmische Adaption des Stoffes des gleichnamigen Buchs von Alasdair Gray, der auch Elemente von Mary Shelleys Frankenstein beinhaltet. Lanthimos Version von Frankensteins Braut ist genau der Film, der Greta Gerwigs „Barbie“ sein wollte, aber nie sein konnte. In „Poor Things“, der einen visuell fantastisch überhöhter Mix aus einer surrealistischen, viktorianischen, Steampunk-Atmosphäre bietet und bereits mit seiner Optik und Ausstattung sowie den Bildern von Robbie Ryan visuell ein Kunstwerk ist, steht vor allem die Reise der Emanzipation der von Emma Stone gespielten Bella Baxter im Vordergrund, die mit ihrer Naivität, ihrer Furchtlosigkeit, ihrer Schamlosigkeit und letztendlich ihrer sich entwickelnden Intelligenz sich ihren Platz in der Welt erarbeitet. Gerade diese gesamte Charakterzeichnung und Entwicklung ist der faszinierende Kern des gesamten Films und eine absolute Meisterleistung von Emma Stone, der ich nach ihrem ersten Oscar für „La La Land“ viel Erfolg wünsche, wenn es um ihren vielleicht zweiten Oscar in Griffweite geht. Gerade diese Reise, das naive Erkunden der Welt, die Entdeckung der eigenen Weiblichkeit und auch die Entdeckung, den eigenen Intellekt und die gewonnene Weiblichkeit als Waffe einzusetzen ist großartig, selbst wenn die Form der weiblichen Selbstermächtigung lediglich wie Feminismus an der Oberfläche wirken kann – genau wie die hier integrierten Philosophien zum Leben und der Gesellschaft, nicht zu vergessen die durchaus auch nicht immer vorteilhafte Zeichnung der männlichen Nebencharaktere, bei denen vor allem Mark Ruffalo als windiger Anwalt Duncan Wedderburn und Willem Dafoe als Dr. Godwin Baxter begeistern. Doch wenn man sich dafür entscheidet, „Poor Things“ im Kino anzusehen, sollte man sich bewusst sein, dass der Film nicht den üblichen Konventionen entspricht, weil Yorgos Lanthimos kein Filmemacher der Konventionen ist, sondern konsequent mit diesen bricht und mit den Erwartungen der Zuschauer spielt. In „Poor Things“ geht das bis in kleinste zwischenmenschliche Situationen und Dialoge, die wie gegen den Strich gebürstet wirken und damit grandios unterhaltsam und absurd sind und auch die grafische Zurschaustellung von „wildem Gehopse“, wie es in dem Film heißt, zeigt den furchtlosen und schamlosen Umgang mit Nacktheit, Sexualität und teils absurden dahingehenden Perversionen. Diesen herausfordernden Mut haben heutzutage nur noch sehr wenige Filmemacher und diesen Mut möchte ich natürlich mit meiner Höchstwertung goutieren. Ein weiterer Film, der diese Höchstwertung in 2024 bereits aufgrund einer Sneak in der eher passenderen Zeit zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel gesehen habe ist Alexander Paynes „The Holdovers“. Da ist es schon ein „Poor Thing“, dass „The Holdovers“ nur ein „Holdover“ für die Spitzenplatzierung geblieben ist, bis „Poor Things“ nun diesen Platz eingenommen hat und es für alles andere weitere im Filmjahr 2024 ein „Poor Thing“ sein wird, sich mit „Poor Things“ messen zu müssen.
„Poor Things“ - My First Look – 10/10 Punkte